Der Muttermörder mit dem Schal. Bernd Kaufholz
Tochter regelrecht Angst gehabt.“
Die Aussage der Hauptmieterin Beate Rilke*, die gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt ist, wird zu einem weiteren Mosaiksteinchen, das dazu beiträgt, ein klares Bild des Mordfalls Tylle bei den Kriminalisten entstehen zu lassen.
Seit dem 16. Juni 1959 wohne Walter Tylle in ihrer Wohnung, gibt Frau Rilke an. Als er sich um das Zimmer beworben hatte, habe sie erfahren, dass er mit seiner Frau in Scheidung lebt. „Eigentlich wollte ich lieber eine Untermieterin. Bei Tylle habe ich befürchtet, dass irgendwann mal eine Frau erscheint und meine Wohnung auf den Kopf stellt.“ Doch hatte sie sich von Tylle überzeugen lassen. Schon im ersten Gespräch habe sie festgestellt, dass er „über reichliches Wissen verfügt“. Das habe sie schließlich umgestimmt, worauf sie das Zimmer an ihn vermietete.
Vier Wochen lang habe der „gebildete Herr Tylle“ allein gewohnt, und sich während dieser Zeit oft Bücher aus ihrer Bibliothek entliehen. „Insbesondere studierte er Heine und Hegel.“
Sie habe von ihm erfahren, dass seine Frau als Serviererin arbeitet und dem Alkohol verfallen ist. In diesem Zusammenhang erinnert sich die Rentnerin an einen Brief, den ihr Untermieter an seine Frau geschrieben hatte. „Angeregt durch das Buch ‚Heine und Mathilde‘ hatte er ihr einen rührenden Brief geschrieben. Er hat ihn mir vorgelesen.“ Wenig später sei Antwortpost gekommen. Darin habe seine Frau eingeräumt, Mitschuld an dem Zerwürfnis zu tragen, und ein Treffen vorgeschlagen.
Dieses hatte dann in Tylles Zimmer stattgefunden. „Ich war zwar erst dagegen, weil er mir seine Frau als so schlecht beschrieben hat“, sagt sie, „aber zuletzt habe ich dann doch zugestimmt.“
Das Paar hatte sich nach dem Gespräch wieder vertragen. Beide seien zum Gericht gegangen und hätten die Scheidung widerrufen. Wenig später zog Irmgard Tylle mit in das Zimmer ein. „Ich lernte die Ehefrau kennen und war sehr überrascht: Sie war anständig, arbeitsam, aufgeschlossen, überaus ehrlich, lebenslustig und hilfsbereit. Ich habe nicht festgestellt, dass sie ständig betrunken nach Hause kommen würde.“
Lediglich einmal habe sie ihre neue Untermieterin „angetrunken“ nach der Nachtschicht als Serviererin erlebt. Ein riesiger Krawall sei die Folge gewesen. „Herr Tylle hat seine Frau in mein Zimmer gestoßen und geschrien: ‚So sieht ein besoffenes Weib aus.‘ Ich habe ihr jedoch kaum etwas angemerkt. Sie schwankte nicht und hat auf mich nur einen verweinten, ängstlichen Eindruck gemacht.“
Die Auseinandersetzung zwischen dem Ehepaar sei dann im Zimmer der Tylles weitergegangen. „Ich habe gehört, wie die Frau rief: ‚Fräulein Rilke, Fräulein Rilke, so helfen Sie mir doch … ‘“ Nachdem sie ins Zimmer gegangen war, habe sie gesehen, dass Tylle seine Frau kräftig auf das Bett gedrückt und ihr brutal den Mund zugehalten hat. „Am nächsten Tag war ihr Gesicht grün und blau.“ Sie habe Angst gehabt, dass ihr Untermieter seine Frau umbringen könnte.
Marianne Reck* hatte Tylle im Januar 1957 während ihres Urlaubs in Wernigerode kennengelernt. Sie wird am 4. Januar 1959 von Winter verhört, um den Charakter des Tatverdächtigen näher zu beleuchten. Ihr Verhältnis sei „intim“ geworden und er habe sie mehrfach in Magdeburg besucht, gibt die Zeugin an. „Walter ist sehr jähzornig. Er hat mich mehrfach geschlagen. Als ich mich daraufhin von ihm trennen wollte, hat er mich bei der Kaderabteilung auf meiner Arbeit schlechtgemacht. Ich sei ‚kein Marxist‘. Meine Taten und Worte würden nicht übereinstimmen“, berichtet die 43-Jährige. Tylle habe sie immer weiter belästigt, so dass sie ihn beim Schiedsmann verklagt hatte. „Beim Sühnetermin hat er sich dann bei mir entschuldigt. Damit war die Sache für mich erledigt.“
Doch am Morgen des 11. September 1957 habe ihr Tylle vor der Wohnungstür aufgelauert, sie in ihre Wohnung zurückgedrängt, sie dort am Hals gewürgt und ihr den Mund zugehalten. „Er hat gedroht, mich zu töten und sich dann selbst umzubringen, wenn ich nicht mit ihm zusammenbleibe.“ Dann habe er sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Danach sei es ihr gelungen, die Wohnung zu verlassen und die Polizei zu alarmieren. „Als ich mit einem Polizisten zurückkam, hatte Tylle die Tür mit Möbeln verrammelt und sich mit einem Küchenmesser am Hals verletzt. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert.“
Am Schluss ihrer Aussage erzählt Marianne Reck, dass Tylle immer den Eindruck vermitteln wollte, dass er sehr gebildet sei und über großes Wissen verfüge – besonders auf mathematischem Gebiet.
Hildegard Schmidt* kennt Irmgard Tylle aus der Zeit, als die Familie noch in der Immermannstraße wohnte. Auch sie bezeugt, dass Frau Tylle von ihrem Ehemann geschlagen wurde. „Einmal musste sie sich sogar im Altstädtischen Krankenhaus behandeln lassen“, untermauert sie ihre Aussage. Außerdem ließ Tylle seine Frau „geschlechtlich keine Nacht in Ruhe. Das alles könne sie nicht mehr ertragen. Sie wolle zu ihrer Mutter ziehen.“ Nachdem Frau Tylle die Wohnung verlassen hatte, habe ihr Mann noch ein paar Wochen in der Immermannstraße gewohnt und sei dann zur Olvenstedter Straße gezogen.
Auch die politische Vergangenheit des Beschuldigten, mit der Tylle hausieren geht, wird untersucht. Ein früherer Hamburger KPD-Angehöriger, der inzwischen in Leipzig lebt, wird dazu befragt. Von einer KPD-Zugehörigkeit Tylles vor 1933 wisse er nichts, und nach 1945 habe Tylle nur wenig Vertrauen genossen, da er sich zu sehr mit der britischen Besatzungsmacht abgegeben und für die Engländer „sogar als Dolmetscher gearbeitet“ habe. Nach Leipzig sei Tylle seiner Meinung nach nur gegangen, weil er sich arbeitsmäßig und finanziell verbessern wollte – nicht aus politischer Überzeugung.
Nach den Zeugenbefragungen und der Auswertung der medizinischen Gutachten sind sich die Kriminalisten sicher, dass Tylle ihnen nicht die volle Wahrheit gesagt hat. Am 10. Januar 1960 wird gegen Walter Tylle ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der gebürtige Hamburger stehe „im dringenden Verdacht, gemeinsam mit einer bisher noch unbekannten Frau eine Schwangerschaftsunterbrechung bei seiner Ehefrau vorgenommen zu haben, an deren Folgen sie verstarb“.
Zwei Tage später wird Tylle zum dritten Mal vernommen. Nach wie vor wirft er seiner Frau vor, schuld an der schlechten Ehe gewesen zu sein, besonders ihr „leichtfertiges Verhalten Männern gegenüber“ habe der Beziehung geschadet. Angezeigt habe er sie aus „persönlichem Rechtsempfinden“. Außerdem beschuldigt er nun seinerseits seine Frau, in sexuellen Dingen „maßlos“ gewesen zu sein. Auch am Tatabend habe sie „in eindeutiger Form“ den Beischlaf von ihm gefordert. „Ich bitte darum, auf das Wie nicht näher eingehen zu müssen“, drückt er sich vor einer detaillierten Aussage.
Nachdem er die Mordtat erneut geschildert hat, klärt er auch das Rätsel des „Fresko Sonetts an Christine S.“ auf. „Ich habe es acht bis zehn Tage vor dem schlimmen Vorfall geschrieben. Ich habe das Werk in einem Heine-Buch gefunden und wörtlich abgeschrieben. Mit der Tat hat das Schreiben überhaupt nichts zu tun“, beteuert er.
Nachdem die Morduntersuchungskommission den Fall so gut wie abgeschlossen hat, bittet Tylle Anfang Februar 1960 die Gefängnisleitung um eine weitere Unterredung mit den Kriminalisten. Doch was er am 8. Februar Oberleutnant Schmidt mitzuteilen hat, ist für das Verfahren kaum von Bedeutung. Es geht ihm darum, „seine Person in das richtige Licht zu rücken“. Deshalb schildert er dem Polizisten ausführlich seine Kriegs- und Nachkriegserlebnisse.
Zum Schluss fällt ihm noch eine „Kleinigkeit“ ein: „Der Hammer lag nicht im Werkzeugschrank, sondern auf einem Schränkchen in unserem Zimmer.“ Nach der Tat habe er ihn jedoch in den Werkzeugkasten im Klo zurückgelegt.
Das nervenfachärztliche Gutachten spricht auf 23 Seiten von einer „gemütslosen, bindungslosen, brutal-rücksichtslosen, des Mitleids unfähigen und expansiven Persönlichkeitsstruktur“. Außerordentlich bemerkenswert sei im Zusammenhang mit der Tat, dass Tylle zwei Tage neben der Leiche seiner Frau im Bett liegen geblieben ist.
„Der anfängliche Verdacht, dass schizoide Züge vorliegen könnten, hat sich nicht bestätigt.“ Ebenso wenig die Annahme eines krankhaften Eifersuchtswahns. Die Voraussetzungen des Paragraphen 51 (Schuldunfähigkeit oder eingeschränkte Schuldfähigkeit) liegen daher nicht vor.
Am 5. Mai 1960 beginnt vor dem II. Senat des Bezirksgerichts Magdeburg der dreitägige Prozess gegen Walter Tylle. Fünf Zeugen und vier Sachverständige werden gehört.
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