Der Muttermörder mit dem Schal. Bernd Kaufholz

Der Muttermörder mit dem Schal - Bernd Kaufholz


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stirbt auf der dünnen Schneedecke vor der Eingangstür der Konsumgaststätte, und Walter Buckow will oder kann sich später aufgrund seiner Trunkenheit an Einzelheiten nicht mehr genau erinnern. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit kommt der Tathergang, so wie er vom Magdeburger Bezirksgericht Mitte 1965 dargestellt wird, der Wahrheit am nächsten.

      Büntje, mit über 1,80 Metern größer als Buckow und betrunkener als der 29-Jährige, öffnet die Tür des Gastraums und bedeutet Buckow mit einer Geste, dass er vorangehen soll. Dann taumelt er selbst in den Flur des Hauses. Dort lässt Buckow dem Dunkelblonden den Vortritt ins Freie. Doch kaum ist er über die zwei niedrigen Eingangsstufen hinweggestolpert, geht er auf Büntje zu. Der greift ihn am Kragen und fragt: „Was willst du denn von mir?“ Buckow stößt ihn zurück, aber der Stendaler geht erneut auf ihn zu. Bukow hält den 22-Jährigen mit der rechten Hand fest, greift mit der linken in die Hosentasche, holt sein Taschenmesser heraus und öffnet es zwischen Daumen- und Zeigefinger ein Stückchen. Dann streicht er mit der Waffe an seinem linken Filzstiefel entlang und klappt sie so völlig auf. Unmittelbar danach sticht er dreimal in die rechte Seite des Stendalers. Ein Stich verletzt die Lunge. Büntje krümmt sich nach rechts. Diese Gelegenheit nutzt Buckow, um ihm einen kräftigen Stich in die linke Halsseite zu versetzen. Der Stendaler bricht zusammen und fällt in die Knie. Er ist auf der Stelle tot. Der Täter hält sein Gegenüber unter den Achseln fest, schüttelt ihn und ruft „Hansi, Hansi! Steh auf! Was ist denn …?“ Dann wird ihm klar, dass er einen Toten in den Armen hält. Er lässt ihn langsam zu Boden gleiten und läuft nach Hause.

      Im Lokal geht die Frau des Wirtes in den Nebenraum, wo Fritz Selm Abendbrot isst: „Komm doch mal rüber“, fordert sie ihn auf, „Buckow und Büntje sind nach draußen gegangen. Wenn man da nichts passiert.“

      Als er die Gaststube betritt, hört er gerade, wie seine Ehefrau dem Grenzsoldaten Herbert Off* bittet: „Geh doch mal raus nachsehen, was die beiden treiben.“ Und der Angehörige des 23. Grenzregiments in Gardelegen, der auf Urlaub in Fleetmark weilt, geht aus dem Gastraum. Es ist gegen 22.45 Uhr, als der Grenzer Büntje auf dem Rücken liegen sieht – direkt vor dem Eingang, gleich neben der Seuchenmatte mit den Sägespänen.

      Off fühlt den Puls des Mannes, kann ihn jedoch nicht finden. Auch ein zweiter Gast, Wilfried Fließ*, bemüht sich um Büntje. Sie schütteln den Leblosen. Ohne Erfolg. Inzwischen ist auch Gastwirt Selm nach draußen gekommen. Er hört, wie der Grenzer sagt: „Das hat keinen Zweck.“

      Dann laufen die drei wieder in die Gaststätte. Off ruft schon von der Tür: „Der Büntje ist tot. Alles ist voller Blut!“ Fließ telefoniert mit dem Abschnittsbevollmächtigten der Polizei und dem Roten Kreuz.

      Gerda Buckow* hat an diesem Abend nicht mit dem Abendbrot auf ihren Mann gewartet. Er hatte ihr schon beim Mittagessen gesagt, dass es später werden kann, weil noch Getreidewaggons zu entladen seien. Die 29-Jährige war bei ihren Eltern zum Fernsehen gewesen und hat sich gerade hingelegt, als jemand an der Türklinke rüttelt. Gerda Buckow wundert sich, denn ihr Mann weiß, dass der Schlüssel im Fenster liegt, damit er aufschließen kann, wenn er später nach Hause kommt.

      Sie geht an die Tür und öffnet. Ihr Mann steht zitternd und weinend in der Veranda: „Das habe ich nicht gewollt. Das nicht. Das habe ich nicht gewollt“, sagt er immer wieder. Gerda Buckow fragt: „Um Gottes willen, was ist denn passiert?“ Doch ihr Ehemann stammelt nur: „Ich konnte mich doch nicht erwürgen lassen. Und jetzt ist er tot.“ Wer denn tot sei, will seine Frau wissen. „Der Büntje aus Lübbars.“

      Die Hausfrau ahnt, dass etwas Schreckliches passiert sein muss und ihr Mann darin verwickelt ist. Ihr wird schwarz vor Augen und sie muss sich am Tisch festhalten. Als sie sich wieder etwas gefangen hat, fällt ihr auf, dass der blaue Schlosseranzug ihres Mannes auf dem Rücken voller Straßenschmutz und Sägespäne ist.

      „Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden“, sagt der Lagerarbeiter. Dann fragt er nach seiner Mutter.

      Die Hausfrau holt ihren Mantel und sagt: „Komm, wir gehen zu ihr.“ Unterwegs will Buckow plötzlich wieder zurück und seine Tochter noch einmal sehen. Doch die Ehefrau bittet ihn, das Kind schlafen zu lassen.

      Das Paar geht am Haus der Schwägerin vorbei. Ihr Ehemann ist Polizist. Gerda Buckow ruft nach Brigitte Peetz*. Die Schwester ihres Mannes zieht sich im Schlafzimmer den Morgenmantel über und geht an die Tür. Gerda Buckow erzählt ihr, was passiert ist. Währenddessen geht Walter Buckow die letzten Meter bis zur Wohnung seiner Mutter allein.

      Oberwachtmeister Horst Peetz* zögert nicht lange. Er schlüpft in den Trainingsanzug und läuft zur Konsumgaststätte. Dort sieht er direkt vor dem Eingang einen Mann auf dem Rücken liegen, das Gesicht voller Blut. Der Polizist öffnet das Hemd und fühlt nach Herzschlägen. Doch auch er kann keine feststellen. Der Körper ist schon fast kalt.

      Peetz geht ins Lokal. Die Gäste wissen Bescheid. Er erfährt, dass die Polizei bereits alarmiert ist. Der Oberwachtmeister winkt Herbert Off und Wilfried Fließ heran. Gemeinsam mit ihnen trägt er den Toten in die Gaststube. Dabei sieht er die Stichwunde am Hals.

      Anna Buckow* schläft schon. Es ist gegen 23 Uhr, da klopft es laut an ihre Wohnungstür im 1. Stock. „Wer ist denn da?“, fragt die 59-Jährige schlaftrunken. „Ich bin’s, Walter, mach auf!“, hört sie die aufgeregte Stimme ihres Sohnes. Die LPG-Bäuerin öffnet und sieht sofort, dass er angetrunken ist.

      Bevor sie ihn fragen kann, was er auf dem Herzen hat, sagt Walter Buckow, dass er „einen erstochen“ hat. „Aber ich habe das nicht gewollt. Ich habe mich bloß gewehrt. Der andere wollte mich abwürgen.“

      „Wer wollte dich abwürgen?“, fragt die Mutter. „Der Büntje“, so die Antwort. Anna Buckow glaubt zuerst, dass er „den alten Büntje aus Lübbars“ meint, und sie fragt nach. Doch vorerst bekommt sie keine Antwort. Walter schluchzt hemmungslos, wirft sich auf die Erde und wälzt sich hin und her: „Ich bin kein Mörder! Ich bin kein Mörder! Ich wollte ihn nicht erstechen. Ich wollte mich bloß wehren!“

      Als er sich wieder etwas gefasst hat, sagt er seiner Mutter, dass er zur Polizei gehen will, um sich zu stellen. Die 59-Jährige hat Angst, dass Walter sich etwas antut und will ihn zurückhalten: „Lauf doch nicht gleich wieder weg.“ Sie will wissen, wo sich die Tragödie zugetragen hat. „In der Konsumkneipe“, antwortet ihr Sohn. Und er erzählt etwas von 5 Mark. Doch sie versteht den Zusammenhang nicht. Die Aufregung überträgt sich auf die Frau. Sie weiß sich keinen Rat. „Geh erstmal nach Hause“, rät sie ihm. Wie in Trance steht Walter auf und geht wortlos hinaus.

      Anna Buckow legt sich wieder ins Bett. Fünf Minuten später hört sie unten auf dem Hof Geschrei. Sie erkennt die Stimme ihrer Schwiegertochter. Kurz darauf stehen ihr Sohn Walter, seine Frau Gerda und ihre Tochter Brigitte vor der Tür. Völlig aufgelöst berichtet Brigitte Peetz ihrer Mutter, dass sie gerade dazugekommen sind, als sich ihr Bruder unten auf dem Hof die Pulsadern aufschneiden wollte. „Da hat Gerda ihm das Messer weggenommen“, erzählt die Tochter. „Her damit!“, sagt die resolute 59-Jährige, und ihre Schwiegertochter Gerda gibt ihr das Taschenmesser.

      Walter Buckow beginnt erneut zu jammern, dass er doch kein Mörder sei. Anna Buckows Tochter und Schwiegertochter sitzen dabei und weinen. „Ich stelle mich“, reißt sich der Täter zusammen. „Ich gehe vorher nur noch schnell nach Hause und ziehe mir saubere Sachen an.“ Frau und Schwester begleiten ihn auf die Straße.

      Gegen 23 Uhr geht beim Polizeikreisamt in Salzwedel die Meldung ein, dass es nach einer Kneipenschlägerei in Fleetmark einen Toten gegeben hat. Das Opfer liege blutüberströmt vor der Konsumgaststätte.

      Zehn Minuten später ruft Dorfpolizist Peetz von der Gaststätte beim Diensthabenden an und teilt mit, dass er am Tatort sei und das Opfer tot ist. „Ruf einen Arzt an, Genosse Peetz, und sichere mit VP-Meister Herms den Tatort“, lautet der Befehl aus Salzwedel. Gleichzeitig benachrichtigt das Polizeikreisamt den ABV des Nachbarortes Hauptwachtmeister Bierstedt. Er soll sofort zur Konsumgaststätte fahren.

      Kriminaldienst im Salzwedeler Polizeikreisamt hat in dieser Nacht Polizeimeister Michel. Er und Kripo-Leutnant Drankmeister werden nach Fleetmark beordert. Dort erfahren sie in der Konsumgaststätte durch Oberwachtmeister Peetz,


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