Der Muttermörder mit dem Schal. Bernd Kaufholz

Der Muttermörder mit dem Schal - Bernd Kaufholz


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zur Trinkerfürsorge zu gehen.“ Ihre Mutter habe zwar ab und zu getrunken, „aber nicht stark. Sie konnte nur nichts vertragen.“

      Heinrich Moll* von der Alkoholikerberatungsstelle, der am 25. November 1959 von Tylle und seiner Stieftochter aufgesucht worden war, hatte kurz darauf ein Gespräch mit Irmgard Tylle geführt und auch Erkundigungen über sie eingezogen. „Wir haben nicht feststellen können, dass Frau Tylle Trinkerin ist.“

      Auch Kurt Raps*, Abteilungsleiter der HO-Gaststätten, stellt Irmgard Tylle ein gutes Zeugnis aus. Getrunken habe sie nur in dem Maße, wie es alle tun, die im Gaststättengewerbe arbeiten, lautet seine nicht ganz eindeutige Aussage.

      Am 9. Mai 1960 spricht Richterin Krug den Angeklagten schuldig und verurteilt ihn zu lebenslangem Zuchthaus. Im vorliegenden Falle sei von der Todesstrafe abzusehen, führt sie aus, weil „in unserem Arbeiter- und Bauernstaat feste gesellschaftliche Verhältnisse bestehen und unsere Gesellschaft stark genug ist, derartige Verbrecher so zu isolieren und sie durch eine lebenslange Zuchthausstrafe von weiteren Verbrechen abzuhalten“.

      Tylle legt gegen das Urteil Berufung ein, es solle ihm Gelegenheit gegeben werden, „Entlastungszeugen“ ausfindig zu machen, die aussagen, was er bisher geleistet habe und was er für ein Mensch sei. „Außerdem liegt mir daran, den Tathergang richtig zu schildern.“ Das Oberste Gericht der DDR lehnt den Antrag am 31. Mai 1960 als „offensichtlich unbegründet“ ab.

      Am 31. Januar 1978 wird der nunmehr 75-Jährige nach seiner Begnadigung durch den Staatsrat der DDR in ein Magdeburger Pflegeheim entlassen.

      „Verwerfliche Tat“, unter dieser Schlagzeile berichtet die Magdeburger „Volksstimme“ am 28. Dezember 1962 über ein Kapitalverbrechen, das sich eine knappe Woche zuvor im Altmarkdorf Fleetmark ereignet hatte. Zu diesem Zeitpunkt sitzt der 29 Jahre alte Täter bereits in Untersuchungshaft und hat die Messerstiche gegen einen 22-Jährigen gestanden. Doch war es Totschlag oder Körperverletzung mit tödlichem Ausgang? Eine Frage, die die Instanzen vom Kreisgericht Salzwedel bis zum Obersten Gericht der DDR zwei Jahre lang beschäftigen wird.

      Sonnabend, der 22. Dezember 1962. Walter Buckow* beginnt seine Arbeit im Volkseigenen Erfassungs- und Aufkaufbetrieb für landwirtschaftliche Erzeugnisse (VEAB) in Fleetmark. Der 29-Jährige schaufelt Getreide um – bis 9.30 Uhr, dann ist Frühstückspause. Im Aufenthaltsraum drehen sich die Gespräche der Sieben-Mann-Runde hauptsächlich um Fußball und Filme.

      Als Buckow eine halbe Stunde später gerade seine Brotbüchse wieder einpacken will, kommt der Erfassungsstellenleiter in den Frühstücksraum. Er hat eine große Flasche Weinbrand in der Tasche und lädt die VEAB-Mitarbeiter zum Schnaps ein. Draußen sind es zwölf Grad unter Null und die Arbeiter lassen sich nicht lange bitten.

      Als die Flasche um 12 Uhr leer ist, geht ein Kollege los, um Nachschub zu holen – zwei kleine Flaschen Weinbrand. Eineinhalb Stunden später sind auch diese Flaschen geleert. Das „verlängerte Frühstück“ mündet übergangslos in die Mittagspause. Der Lagerarbeiter fährt mit dem Fahrrad nach Hause in den Mühlenweg. Seine Frau hat Spinat mit Spiegelei gekocht.

      Da sein Durst noch nicht gelöscht ist, bricht er anschließend zur Bahnhofsgaststätte auf. Sie liegt auf dem Weg zum VEAB. Dort trifft er Hans Büntje*, der im Mantel am Tresen steht. Der junge Mann ist um 14.15 Uhr mit dem Zug aus Stendal angekommen. Die beiden Männer kennen sich vom Sehen und nicken sich zu. Buckow bleibt eine gute halbe Stunde im Lokal und trinkt vier Schnäpse.

      Dann fährt er zum VEAB und hilft bis gegen 17.30 Uhr zwei Waggons mit Getreide zu entladen. Das macht eine trockene Kehle. Deshalb zieht es den 29-Jährigen nach Arbeitsschluss erneut in die Bahnhofsgaststätte. Und ihm fällt auf, dass Büntje immer noch an der Theke steht. Buckow trinkt in der Bahnhofswirtschaft zwei Bier und vier, fünf Schnäpse. Dabei kommt er mit dem Stendaler ins Gespräch.

      Der 22-Jährige will seine Eltern im Nachbarort Lübbars, einem Ortsteil von Kerkau, besuchen, ist jedoch in der Kneipe hängen geblieben. Der junge Mann, der im Reichsbahn-Bauzug in Stendal arbeitet, gilt als „gut erzogen“, aber auch als Mensch, der „öfter mal tief ins Glas schaut“, wie der Kerkauer Bürgermeister später einschätzt. In angetrunkenem Zustand werde Büntje „reizbar und anzüglich“. Doch nüchtern gebe es an ihm „nichts auszusetzen“.

      Da es im Bahnhof nichts Ordentliches zu essen gibt, schlägt Walter Buckow gegen 19 Uhr vor, in die nicht weit entfernte Konsumgaststätte zu wechseln. „Ich will zwar nach Hause“, sagt Büntje mit schwerer Zunge, „aber ich komme noch mit.“ Die Männer gehen von der Bahnhofstraße den Weg, der über eine kleine Böschung führt, zum Platz vor der Gaststätte.

      Buckow betritt den Gastraum als Erster, setzt sich an den dritten Tisch am Fenster und bestellt einen Kaffee und einen Schnaps.

      Kurz darauf kommt auch Hans Büntje, der sich draußen noch erleichtert hat, in die Gaststube, mit den drei Vierer- und zwei Achtertischen. Der Angetrunkene knallt seinen Koffer laut auf den ersten Tisch, an dem bereits ein Gast sitzt. Gastwirt Fritz Selm* zieht die Stirn in Falten und ruft Büntje zur Ordnung: „So was gibt’s hier nicht. Benimm dich anständig!“

      Doch der Bahnarbeiter scheint die Worte gar nicht aufgenommen zu haben. Er ruft: „Bring mal ’nen Schnaps!“ Doch der Wirt schüttelt den Kopf: „Du hast genug, Junge. Kaffee oder Brause kannste haben.“

      Während des Wortwechsels ist Buckow an die Theke gegangen und hat für seine Frau eine Schachtel Pralinen sowie eine Tafel Schokolade gekauft. Fritz Selm wickelt ihm die Süßigkeiten ein.

      Buckow, der ebenfalls nicht mehr nüchtern ist, trinkt an der Theke weiter – drei Schnäpse. Dabei beginnt er Streit mit Kurt Olaf*, der am Tresen sein Bier trinkt. Beide stehen sich mit geballten Fäusten gegenüber und es hat den Anschein, als wollen die Männer gleich aufeinander los gehen. Doch der Wirt tritt dazwischen und schlichtet die Auseinandersetzung.

      Buckow setzt sich an den Tisch von Hans Büntje – nun geht es um eine neue Runde, die bestellt werden soll. Buckow hat kein Geld mehr und Büntje gibt ihm einen Fünfmarkschein. Doch Buckow holt kein Bier und Schnaps von der Theke. Das ärgert Büntje. Besonders deshalb, weil er ein gebranntes Kind ist. Er hatte einem Kollegen in Stendal 40 Mark geliehen, sie jedoch nicht wiederbekommen. Erst als er geklagt hatte, zahlte der Kollege seine Schulden.

      Dem will Büntje diesmal von vornherein aus dem Wege gehen. Er verlangt von der Wirtin Gertrud Selm* einen Zettel und schreibt auf das Stück liniiertes Papier: „Am 22. 12. 62 habe ich dem Walter Buckow 5 DM geborgt und bitte diese zurückzubekommen. Unterschrift:“

      Doch Buckow denkt gar nicht daran, den „Schuldschein“ zu unterschreiben. Er zerreißt das Papier und wirft es in den Aschenbecher. Doch Büntje schreibt einen neuen Schein und hält ihn Buckow wenig später unter die Nase. Darüber geraten die beiden in Streit. Erst schreien sie sich an, dann schubsen sie sich gegenseitig. Büntje fällt dabei vom Stuhl. Buckow will sich auf den Liegenden stürzen, aber er bekommt einen Tritt in den Unterleib. Zum zweiten Mal an diesem Abend geht der Wirt zwischen zwei Kampfhähne: „Hier wird sich nicht geprügelt! Habt ihr das verstanden? Wenn ihr was miteinander auszumachen habt, geht auf die Straße!“, schreit Selm. Das scheint die Männer zur Besinnung zu bringen. Der Stendaler klopft dem Fleetmarker auf die Schulter und sagt: „War nicht so gemeint.“

      Doch kurz darauf flammt erneut ein Streit auf. Walter Buckow legt sich mit zwei anderen Gästen an. Wieder droht eine Schlägerei. „Jetzt ist aber Schluss!“, so der Wirt. „Du kriegst jetzt auch nichts mehr“, knöpft sich Selm den Betrunkenen vor. Das ärgert Buckow. Er zieht sein Taschenmesser und hält es dem Gaststättenleiter mit der abgewandten, achteinhalb Zentimeter langen Klinge vors Gesicht. Doch der sagt nur: „Steck das Ding weg!“, wendet sich ab und geht in den Nebenraum, um Abendbrot zu essen.

      In der Zwischenzeit bedient seine Ehefrau weiter. Und erneut gibt es Streit um den „Schuldschein“. „Was willste, 5 Mark von mir?“, hört Gertrud Selm vom Tresen aus Buckow blubbern. „Du kriegst gleich 5 Mark. Komm mit raus, da kriegst du 5 Mark. Aber frag nich wie.“ Dann gehen Buckow und Büntje aus dem Lokal.

      Was


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