Der Muttermörder mit dem Schal. Bernd Kaufholz
Unten angekommen steuert die 54-Jährige auf einen der fünf Lattenverschläge zu. Sie legt den Toten vor dem linken Keller gegenüber der Treppe ab und öffnet das Vorhängeschloss. Im hinteren Teil des Verschlags liegen vier Zentner Kartoffeln. Davor befindet sich eine Grube – etwa drei Spatenstiche tief und so lang und breit, dass ein Mensch mit angewinkelten Beinen darin liegen kann.
Minna Brauer hat das Loch eine Stunde zuvor gegraben, um darin den Leichnam ihres Mannes verschwinden zu lassen. Jetzt legt sie den Toten hinein und deckt eine große Natursteinplatte darüber. Anschließend füllt sie das Kellergrab mit der ausgehobenen Erde auf, verteilt den Rest im Keller und tritt ihn fest.
Zurück in der Wohnung legt sie sich ins Bett. Einen Plan, wie sie das Verschwinden des 64 Jahre alten Invalidenrentners erklären kann, hat sie sich bereits zurechtgelegt: „Am besten ist es, ich erzähle, dass Paul in den Westen abgehauen ist“, denkt sie beim Einschlafen. Aber erst mal sage ich gar nichts. Dann muss ich auch keine neugierigen Fragen beantworten.
Doch im Haus und in der Nachbarschaft bleibt es nicht lange unbemerkt, dass Paul Brauer* nicht mehr da ist. Freunden und Bekannten erzählt Minna Brauer nun, dass ihr Mann im Krankenhaus liegt. Er sei mit dem Fahrrad in das Waldstück am Kalkwerk gefahren, um Tannengrün für den Totensonntag zu holen, sagt sie. Dabei sei er schwer gestürzt und ins Krankenhaus Haldensleben eingeliefert worden.
Ende November erfährt Grete Ebel* diese Geschichte. Die Familien Brauer und Ebel kennen sich schon seit vielen Jahren und besuchen sich auch gegenseitig. Die 52-Jährige holt für einige ältere Weferlinger die Rente ab und Minna Brauer fragt deshalb: „Du, sag mal Grete, wann gibt es denn im Dezember Geld?“ Und sie fügt an: „Kannst du nicht gleich Pauls mitbringen?“ Als ihre Bekannte fragt, ob der Ehemann krank sei, antwortet Minna Brauer: „Er ist im Wald so schwer gestürzt, dass er gleich mit der Schnellen Hilfe ins Krankenhaus gefahren werden musste.“
Mitbewohnern in der Straße der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft Nr. 20 berichtet sie, dass ihr Mann einen Unfall bei Everingen gehabt habe. Sie sei schon mehrmals im Haldensleber Krankenhaus gewesen, ihn zu besuchen. „Paul ist bald wieder gesund und kommt nach Hause.“
Anfang Dezember besucht Grete Ebel ihre Freundin. Sie sieht den Sonntagsmantel Minna Brauers an der Flurgarderobe hängen. „Na, dann besuchst du wohl morgen Paul in der Klinik?“ Doch die Gefragte meint nur: „Nein, nein, ich kann meine Arbeit nicht versäumen.“
Ein paar Tage später treffen sich die beiden Frauen erneut. „Du, ich habe von Paul einen Brief gekriegt – ohne Absender, aber in Haldensleben abgestempelt“, sagt Minna Brauer. „Ich soll seine Rente und seine Papiere bereitlegen. Er will in den nächsten Tagen kommen, um sie abzuholen.“ Als ihre Bekannte sie fragend ansieht, äußert die 54-Jährige einen Verdacht: „Der Paul wird wohl eine andere haben.“ Sie werde nun zur Polizei gehen, um ihn „abzumelden“.
Ernst Litte, Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei, sitzt am Vormittag des 14. Dezember in seinem Dienstzimmer in Weferlingen. Er hat an jenem Freitag eine Besprechung mit dem VP-Landgebietsinstrukteur Leutnant Wolters. In das Gespräch platzt Minna Brauer hinein. Und obwohl der Polizeiunterleutnant darauf hinweist, dass er erst am Nachmittag Sprechstunde hat, lässt sich die Frau nicht abweisen. Ihr Anliegen sei sehr wichtig. „Mach man, Genosse Litte“, sagt Wolters, „ich habe Zeit.“
Was denn so eilig sei, will der ABV wissen. Minna Brauer legt einen Personalausweis auf den Tisch und sagt: „Ich will meinen Mann abmelden.“ Litte und sein Kollege sehen sich verdutzt an. „Wie, abmelden, wo ist er denn?“, fragt der Unterleutnant. Ihr Mann Paul sei in Haldensleben bei einer anderen, antwortet die 54-Jährige. Woher sie das denn wisse, schaltet sich Wolters ein. „Vorgestern habe ich einen Brief von ihm bekommen. Er schreibt, dass es ihm gut geht, und ich soll seine Rente abholen.“
„Kommen Sie morgen zwischen 8 und 12 Uhr zur Sprechstunde in die Meldestelle“, sagt Litte. „Da können Sie Ihren Mann abmelden.“ Sie habe erst Montagvormittag Zeit, entgegnet Brauer. „Gut, dann Montag.“ Als die Frau schon an der Tür steht, ruft der ABV noch: „Und bringen Sie den Brief mit.“
„Kurios, um nicht zu sagen verdächtig“, meint Wolters, nachdem die Frau gegangen ist. Litte nickt nur und ruft den Sachbearbeiter in der Meldestelle an. Er richtet ihm aus, dass er Minna Brauer am Montag sofort zu ihm ins Dienstzimmer schicken soll.
Zwar kommt die Frau am Montag, doch den Brief hat sie nicht dabei. „Ich habe ihn leider schon verbrannt“, erklärt sie. Aber inzwischen habe Paul ihr erneut geschrieben. Sie legt einen Zettel auf den Tisch des ABV: Unterschrift „Paul“. Er trägt das Datum 14. Dezember 1963. Der ABV liest, dass der Ehemann Minna Brauers mit einer Frau in Richtung Grenze unterwegs ist. „Und der Umschlag?“, fragt Litte. Den habe sie auch verbrannt. Aber der Brief sei am 14. Dezember in Haldensleben abgestempelt worden, könne sie sich genau erinnern. Das kommt dem Polizisten seltsam vor. Denn er weiß, dass die Post von Haldensleben nach Weferlingen wenigstens zwei Tage unterwegs ist. Doch vorerst behält er seine Gedanken für sich. Er nimmt unter der Tagebuchnummer 1196/63 die Anzeige auf.
Eines Tages Ende November 1963 in den Vormittagsstunden sei ihr Ehemann aus der Wohnung gegangen, ohne sie wissen zu lassen, wohin. Auf die Frage nach dem Eheverhältnis sagt die 54-Jährige: „In den ersten Jahren war es nicht geordnet. Ich habe öfter mal Schläge von meinem Mann gekriegt.“ In den letzten Jahren seien sie jedoch gut miteinander ausgekommen.
Am 9. oder 10. Dezember habe sie einen Brief von ihrem Mann bekommen. Darin habe er geschrieben, sie solle seine Bekleidung zurechtlegen, da er seine Sachen in den nächsten Tagen abholen wolle. „Außerdem sollte ich zur Polizei und ihn abmelden und veranlassen, dass seine Rente nach Haldensleben überwiesen wird.“
Im zweiten Brief vom 14. Dezember habe Paul mitgeteilt, dass sie ihn nicht abzumelden braucht. Er habe geschrieben: „Wir sind unterwegs zur Grenze. Meine Rente schenke ich dir zum Abschied.“
Bei ihren Töchtern in Magdeburg und Gerbstedt habe sie sich noch nicht erkundigt. „Ich glaube nicht, dass sich mein Mann bei ihnen aufhält.“ Lediglich ihrer Schwester in Neu-Hillersleben habe sie geschrieben. „Doch sie hat geantwortet, dass Paul nicht dort ist.“
Abschließend sagt sie dem ABV noch, dass ihr Mann ohne Papiere gegangen sei. „Ich habe seinen Ausweis und alle persönlichen Unterlagen in der Schublade unseres Stubenschrankes gefunden.“
Der ehrgeizige Ortspolizist versucht am nächsten Morgen Licht in die mysteriöse Sache zu bringen. Er klingelt in der Straße der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft Nr. 20 an den Türen der drei Familien, die dort neben den Brauers wohnen. Die Mieter sind sehr erstaunt, dass sich Paul Brauer von seiner Ehefrau getrennt haben soll. Der ABV erfährt die Geschichte von dem angeblichen Unfall, die Minna Brauer im Haus verbreitet hat. Die Mieter schütteln die Köpfe darüber, dass ihnen die 54-Jährige „so viele Lügen aufgetischt“ hat. Besonders verärgert ist Wilhelm Samt*. Am nächsten Tag passt er Minna Brauer ab und stellt sie zur Rede. „Ich dachte doch immer, dass Paul zurückkommt“, sagt sie kleinlaut. „Ich habe mich einfach geschämt, die Wahrheit zu sagen.“
Die Sache lässt Litte keine Ruhe. Am 18. Dezember geht er zu Minna Brauer. Er hofft, dort vielleicht doch noch den angeblich verbrannten Brief und das Couvert des zweiten Schreibens zu finden. Und die Frau zeigt sich sehr kooperativ. „Hier, Herr Litte, hier ist meine ganze Post. Gucken Sie selbst nach.“ Doch das Gesuchte ist nicht darunter.
„Wenn Sie nicht glauben, dass mein Mann weg ist, können Sie sich die Wohnung ansehen. Ich habe nichts zu verbergen.“ Minna Brauer öffnet die Schränke und hält die darin hängende Bekleidung zur Seite, um zu zeigen, dass ihr Mann nicht da ist. Der ABV lässt sich vom sicheren Auftreten der 54-Jährigen überzeugen.
Kurz nach Weihnachten bekommt Litte vom Weferlinger Bürgermeister die „kollektive Beurteilung“ des Verschwundenen. Brauer sei seit „jeher Gelegenheitsarbeiter gewesen, der es nirgendwo lange aushielt und an einem festen Arbeitsverhältnis nicht interessiert war“. Wenn Geld da war, habe der Invalidenrentner mit seiner Frau „einen guten Tag in Gastwirtschaften verlebt. War das nicht der Fall, wurde versucht, auf Pump zu leben.“
Da