Die Irrfahrten des Herrn Müller II. Florian Russi

Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi


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sich am Schalter an. Dort hatte man ihn schon erwartet. Ein Kassenangestellter in dunklem Anzug und mit Krawatte trat zu ihm und bat ihn in einen Nebenraum. „Sie sind also der Vertraute von Frau Nelles“, sagte er, nachdem sie sich beide an einen Besprechungstisch gesetzt hatten. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Daniel verneinte und überreichte dem Mann seinen Personalausweis. Der prüfte ihn genau. „Sie sind also Daniel Müller“, fuhr der Angestellte fort.

      „Der bin ich“, antwortete Daniel ein wenig verlegen. „In der Firma Brinkmann & Co. nennen sie mich Müller II, weil es dort noch einen anderen Müller gibt.“

      „Ich kenne Ihren Chef“, erwiderte der Bankangestellte. „Er ist uns als tüchtiger Mann bekannt. Sie können zufrieden sein, dass Sie bei ihm arbeiten dürfen.“

      „Ich habe gerade erst meine Ausbildung beendet“, antwortete Daniel.

      Würdevoll entnahm der Angestellte aus einer Kiste mehrere Päckchen von 200-Euro-Scheinen und legte sie einzeln vor Daniel auf den Tisch. Hundertmal musste er zählen, dann waren die 20 000 Euro zusammen. Der Banker bündelte sie und steckte sie anschließend in die dafür vorgesehene Aktentasche. Dann schaute er auf seine Uhr und verabschiedete „Daniel Müller Zwo“ mit besten Wünschen.

      So schnell er konnte, eilte Daniel zum Wohnhaus von Thekla Nelles zurück. Dabei verdrängte er die Frage, wie es zwischen ihm und ihr weitergehen sollte. Er öffnete die Haustür.

      Als er das Wohnzimmer betrat, erschrak er heftig. Frau Nelles lag auf ihrem Sofa in einer großen Blutlache. Er schrie auf sie ein, riss ihr den Kragen auf, griff ihr an Kopf und Hals, befühlte ihr Handgelenk.

      Sie war offenbar mit mehreren Messerstichen ermordet worden. Wie konnte das geschehen sein? Zwei Stunden zuvor hatten sie beide doch noch friedlich zusammengesessen. Auf dem Tisch standen noch die Kaffeetassen, aus denen sie getrunken hatten. Wer konnte ein Interesse daran gehabt haben, die harmlose Frau ums Leben zu bringen? Einer ihrer erbschleichenden Verwandten?

      „Der Verdacht wird auf mich fallen“, durchfuhr es ihn. ‚Überall wird man meine Spuren finden. Als sie sich an mich angelehnt und mich gestreichelt hat sind Partikel meiner Kleider, meiner Haut an ihr hängengeblieben … Wofür war das Geld bestimmt, das ich auf der Bank abgehoben habe?‘

      „Nein, nein, nein“, schrie er erregt. Gerade erst hatte er voller Hoffnung und Ehrgeiz seine berufliche Laufbahn begonnen.

      Er wollte Erfolg und ein gutes Einkommen haben, wollte mit Ines zusammenziehen, ein glückliches Leben führen. Damit war es jetzt vorbei. Niemand würde ihm seine Unschuld glauben. Schon die polizeilichen Untersuchungen würden ausreichen, dass sein Chef ihm kündigen und alle Kollegen einen Bogen um ihn machen würden.

      Daniel geriet in Panik. Er fasste den schnellen Entschluss, ins Ausland zu fliehen, von dort aus die Ermittlungen der Polizei abzuwarten. Vielleicht hatte der Mörder auch Spuren hinterlassen und konnte gefasst werden. Dann würde man Daniel seine übereilte Flucht sicher verzeihen.

      Die Aktentasche mit dem Geld nahm er mit. Er würde es unterwegs brauchen. Später, wenn sich alles aufgeklärt hatte, würde er das Geld zurückzahlen. Mindestens 24 Stunden, so rechnete er, sollte es dauern, bis der Mord entdeckt würde. Jetzt ging es nur darum, keine weiteren Spuren zu hinterlassen. Also durfte er nicht sein Handy benutzen, kein Taxi ordern. Er ging zielstrebig, aber ohne Hektik erkennen zu lassen, zum Bahnhof und bestieg den nächsten Zug zum Flughafen.

      Dort angekommen, schaute er sich nach dem nächsten Flug um, der ihn ins Ausland bringen konnte. Plötzlich fiel ihm ein, dass er mit 20 000 Euro Bargeld die Gepäckkontrolle nicht würde passieren können. Er hatte in Erinnerung, gelesen zu haben, dass das Limit bei höchstens 10 000 Euro lag. ‚Jetzt nur nicht in Panik geraten‘, sagte er zu sich selbst und erkundigte sich nach dem Raum mit den Schließfächern. Dort trennte er sich von der Hälfte seines Geldes und schloss es ein. Sein Handy schaltete er aus und legte es dazu. Er wusste, dass es ihn jederzeit verraten konnte.

      Dass er immer noch einen Haufen Bargeld und sonst kein Gepäck mit sich führte, wollte er damit erklären, dass er im Internet von einem Sportwagen gelesen hatte, der günstig zum Kauf angeboten wurde. Er musste schnell reagieren, bevor jemand anderes ihm das Angebot wegschnappte. Von Freunden wusste er außerdem, dass solche Verkäufe in der Regel bar abgewickelt wurden.

      „Letzter Aufruf zum Flug nach Laban!“, hörte er durch den Laufsprecher. Er lief zum Schalter und löste einen Flugschein. Es war kein Platz in der Economy-Klasse frei, also buchte er Business-Class. ‚Nur weg von hier‘, dachte er und lief zum Einchecken.

      „Sie denken wohl, dass 200 Passagiere nur auf Sie warten, junger Mann“, sagte die Angestellte, die seine Bordkarte und seinen Personalausweis überprüfte.

      „Ich werde dringend in Laban erwartet“, erwiderte er und begab sich auf seinen Platz. In der Business-Klasse saßen nur wenige Passagiere. Das war ihm recht. Er drückte sich in seinen Sitz, schnallte sich an und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Dass er fliehen muss, stand für ihn fest. Die Ermittlungen, Verhöre, die Berichte in den Medien, die persönlichen Verdächtigungen, all das würde er nicht ertragen.

      Wie aber sollte er Ines, seine Freundin, informieren? Ob sie ihm glaubte? Die Indizien waren erdrückend. Wie kam eine ältere Dame dazu, auf einen Schlag 20 000 Euro in bar von ihrem Konto abzuheben und das Geld von einem jungen Mann abholen zu lassen? Die Polizei musste annehmen, dass er die Alte erpresst hatte. Kurz zuvor hatten sie noch gemeinsam Kaffee getrunken. Die Spuren deuteten ohne jeden Zweifel auf ihn. Hatte er mehr Geld erwartet? War er wütend und enttäuscht? Hatte sie schon jemand anderem erzählt, dass sie eine Schönheitsoperation plante und sich verjüngen lassen wollte? Hatte sie die Operation oder die Kur vielleicht sogar schon gebucht? Was steckte hinter diesen Plänen? Journalisten und Blogger würden sich in wilden Spekulationen übertreffen und ihn gesellschaftlich erledigen. Daniel sah keinen Ausweg. Entweder er stürzte sich vor einen Zug, oder er floh. Vor wenigen Tagen war er noch voller Hoffnungen gewesen. Nein, aufgeben wollte er nicht. Vielleicht stieß die Polizei ja schon bald auf den tatsächlichen Mörder.

      Das Flugzeug war inzwischen gestartet. Daniel schloss die Augen. Plötzlich fühlte er eine Hand an seiner Schulter. War es schon so weit? Der Griff war nicht sehr fest. Er schaute auf und in das Gesicht einer jungen Frau. Sie sah nicht aus wie eine Polizistin, und es schien ihm, als ob er ihr Bild schon einmal gesehen hatte. Sie bat ihn, auf den benachbarten Platz zu wechseln und setzte sich neben ihn.

      Was hatte das zu bedeuten?

      Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und strich mit ihrer Hand über seine Brust. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihr jemals zuvor begegnet zu sein. Ohne etwas zu sagen und so, als ob sie ein Paar wären, strich sie durch seine Haare und schaute ihn verliebt an. Konnte es sein, dass sie ihn mit jemand anderem verwechselte? Die junge Dame wurde immer zudringlicher. Da fiel ihm plötzlich ein, dass er ihr Bild in einer Zeitung gesehen und über sie gelesen hatte. Als er beim Frisör warten musste, hatte er in einem der bunten Magazine geblättert. Ja, das musste sie sein: Eine leibhaftige, aber nicht unumstrittene Prinzessin. Er, der sich sonst nicht um Hofgeschichten und Prominentenklatsch scherte, hatte gelesen, dass sie zu Besuch bei deutschen Verwandten wäre. In dem Bericht hieß es, dass sie das schwarze Schaf in ihrer Familie sei. Genüsslich wurde geschildert, dass sie in dem Ruf stand, trotz ihrer Jugend schon eine größere Anzahl von Männern verschlissen zu haben.

      Jetzt fiel Daniel auch ihr Name ein: Lore. In dem Magazin war sogar davon die Rede, dass sie Staatsgästen in ihrem Land unsittliche Anträge gemacht hätte und dass es wegen ihr im heimischen Parlament Anträge gegeben hatte, die Monarchie abzuschaffen. Sie war nicht sonderlich hübsch, hatte herbe Züge, aber einen sympathischen Blondschopf und einen ausgeprägten Schmollmund. Sie musste Lore sein. Doch was wollte sie von ihm? War er das aktuelle Opfer ihrer Mannstollheit? Weshalb gerade er, warum jetzt?

      Seine letzte Fragen beantwortete die Blaublütige, indem sie sein Hemd aufknöpfte, sein Unterhemd beiseiteschob und seine Brust küsste. Wie sollte er darauf reagieren?


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