Die Irrfahrten des Herrn Müller II. Florian Russi

Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi


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beide solltet nicht vergessen, was in unserer Verfassung steht“, wandte nun Lore entschieden ein. „Es gilt zwar immer noch die männliche Nachfolge, doch wenn kein Kronprinz vorhanden ist, geht die Krone an die älteste Tochter. Das aber bin ich.“

      „Du wirst doch deinen jüngeren Bruder nicht in Frage stellen“, empörte sich die Mutter.

      „Das brauche ich nicht zu tun. Es gibt nach neuesten Forschungen mindestens 30 verschiedene Arten von Geschlechtern. In unserer Verfassung ist aber eindeutig von einem männlichen Nachkommen die Rede. Wenn du, liebe Mutter, dich ein bisschen mehr um Joseph gekümmert und ihn vielleicht auch mal persönlich gebadet hättest, wäre dir sicher etwas aufgefallen. Dein Jüngster ist ein Zwitter, in jedem Fall kein eindeutiger Mann. Wenn der Kronrat davon erfährt, wird er sich auch damit auseinandersetzen müssen. Unsere Verfassung ist in diesem Fall nicht auf der Höhe der Zeit. Schon lange gibt es die Forderung, die Thronfolge nicht vom Geschlecht abhängig zu machen. Doch die Monarchisten im Parlament haben sich nicht getraut, diese Änderung zu beantragen. Sie haben befürchtet, dass dann die Monarchie insgesamt in Frage gestellt werden könnte. In anderen Ländern ist die weibliche Nachfolge längst eine Selbstverständlichkeit. So wie die Dinge stehen, bin ich die legitime Thronerbin.“

      „Du bist eine Hexe!“, giftete die Mutter.

      „Und ich bin nur ein Mensch“, stöhnte der Vater. „Ich halte dieses Leben nicht mehr aus. Morgen werde ich meinen Rücktritt bekanntgeben.“

      „Dafür besteht keinerlei Grund“, wandte Lore ein.

      Das Gespräch der drei wurde jäh unterbrochen. Lange hatte Daniel sich bemüht, seine unbequeme Lage einzuhalten, sich kaum zu bewegen und keine Geräusche zu verursachen. Doch jetzt hatte er unwiderstehlich niesen müssen. Er hörte, wie die Königin aufschrie und der König einen grässlichen Fluch ausstieß. Die Tür knallte, und es wurde für eine Weile ganz still im ‚Salon Nabucco‘. Dann wurde die Tür wieder aufgerissen, und die Königin war zu vernehmen.

      „Du hast uns also angelogen und diesen deutschen Bastard bei dir versteckt. Wenn er nicht sofort aus dem Schloss verschwindet, schicke ich die Leibgarde, dass sie ihn am Kragen fasst und aus dem Fenster wirft. Es ist unerträglich, was der uns zumutet. Der junge Schnösel hat alles mit angehört und wird morgen zur Presse gehen. Hast du den Journalisten noch nicht genug Stoff geliefert? ‚Prinzessin Lore umschwärmt ihren verheirateten Vetter‘; ‚Schon wieder ein neuer Liebhaber‘; ‚Ist Lore unersättlich?‘; ‚Vater und Tochter auf Staatsbesuch. Der Vater beließ es beim Händeschütteln‘. Was sollen wir denn noch in den Zeitungen über dich lesen? Hast du nicht einen Rest von Anstand?“

      „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich verliebt“, erklärte Lore. „Das ist doch ganz normal. Wenn ich nicht in diesem unmöglichen Schloss leben und auf so viele Konventionen Rücksicht nehmen müsste, gäbe es kein Problem. Doch sei unbesorgt. Daniel ist ein sehr diskreter Mann und wird spätestens morgen unser Land verlassen.“

      „Mit wem hast du dich da eingelassen? Er soll in Deutschland einen Mord begangen haben. Es liegt noch kein Antrag auf Auslieferung vor. Doch wir müssen jederzeit damit rechnen. Es handelt sich also nicht nur um eine private Liebesaffäre. Es könnte ein juristischer und diplomatischer Skandal daraus werden.“

      „Lass es mich regeln“, antwortete Lore bestimmend. Die Mutter verließ den Salon, und Lore befreite Daniel aus seinem Gefängnis. Als sie ihn sah, begann sie unbändig zu lachen, dann prustete es auch ihr heraus: „Das hätte sich ein Filmregisseur nicht absonderlicher ausdenken können. Ein Glück, dass du nicht früher geniest hast. Dann wären die Probleme in meiner Familie wohl wieder einmal nicht angesprochen worden.“

      „Bin ich jetzt schuld, wenn dein Vater morgen zurücktritt?“, fragte Daniel besorgt.

      „Das wird er nicht tun“, erwiderte sie bestimmt. „Es geschieht immer wieder, dass er es ankündigt, doch dann überlegt er es sich und besinnt sich auf seine Verantwortung. Die Nachfolgefrage ist etwas prekär.“

      „Habe ich richtig verstanden, dass es mit deinem älteren Bruder ein Problem gibt?“

      „Mit dem älteren und auch dem jüngeren. Der ältere hatte vor einem Jahr bei einer Safari einen schweren Unfall. Davon wurde leider auch sein Gehirn betroffen. Er kann sich kaum konzentrieren und hat immer wieder geistige Aussetzer. Es wird von Monat zu Monat schlimmer mit ihm. Der Aufgabe eines Königs ist er nicht mehr gewachsen. Mein jüngeres Geschwister wurde zwar in eine männliche Rolle gedrängt, doch, wie du gehört hast, ist es weder Mann noch Frau. Falls sich der Kronrat gegen meinen älteren Bruder entscheidet, müsste die Thronfolge auf mich als älteste Tochter übergehen. Ich dränge mich nicht danach. Es würde mich freuen, wenn mein Vater noch lange im Amt bliebe. Danach aber werde ich auf meinen Rechten bestehen.“

      „Wirst du mir helfen, in ein anderes Land zu entkommen? Jetzt, nachdem sich die Dinge so sehr verwickelt haben, möchte ich mich noch weniger als vorher der deutschen Polizei stellen. Ich habe gelesen, dass in Deutschland fast 100 Prozent aller Mordfälle gelöst werden. Man lässt nicht locker und scheut keine Kosten, bis alles aufgeklärt ist.“

      „Das wäre doch gut für dich, wenn du nicht der Mörder bist.“

      „Ich habe heute Morgen über deinen Computer die Nachrichten aus meiner Heimatregion abgerufen. Die Presse überschlägt sich mit Tiraden auf mich. Das halte ich nicht aus. Ich will irgendwohin verschwinden, wo niemand mich findet und mich erst wieder melden, wenn man den wirklichen Mörder gefasst hat.“

      „Morgen werden die Medien mit unserem Verhältnis aufmachen. Das wird auch für mich nicht einfach. Bis dahin musst du außer Landes sein. Der verlässlichste meiner Freunde wird dich nach Betanien bringen. Dieses Land hat zurzeit keine handlungsfähige Regierung. Fanatische Sektierer kämpfen um die Vorherrschaft. Andere Staaten versuchen, darauf Einfluss zu nehmen. Bisher verlaufen die Auseinandersetzungen weitgehend friedlich. Politisch aber herrscht absolutes Chaos. Sollte man dich in diesem Land vermuten und die Bundesrepublik Deutschland einen Auslieferungsantrag stellen, so wird sich niemand finden, der zuständig ist. Leider kann ich mich nicht richtig von dir verabschieden. Die Zeit drängt. Stell dich darauf ein, in den nächsten zwei Wochen als unbekannter Passagier auf einem Kreuzer zu leben. Unser Geheimdienst wird sich um deine Betreuung kümmern. Auch er hat ein Interesse daran, dass unser Land nicht ins Gerede kommt.“

      Sie umarmte ihn kurz, dann sagte sie: „Wir werden uns sicherlich wiedersehen. Dein Fall wird sich aufklären, und an meinen offenen Umgang mit der Sexualität wird man sich gewöhnen. Zum Abschied habe ich noch ein Geschenk für dich. Du wirst es sicher gut gebrauchen können. Es sieht aus wie ein Halsband, und so solltest du es auch tragen. Es ist ein neuentwickelter Computer, der in der Lage ist, Gespräche in den verschiedensten Sprachen simultan zu übersetzen. Er ist auf alle bekannten Sprachen programmiert, besitzt aber auch die Fähigkeit, nach kurzer Zeit ungewohnte Sprachen, Mundarten und Stammesdialekte zu verstehen. Das gelingt ihm dadurch, dass er Wiederholungen und Zusammenhänge registriert, die Häufigkeit von Wörtern und Begriffen gewichtet und daraus deren Bedeutung kombiniert. Solltest du jemals in einem Dialekt angesprochen werden, wird dir der Computer schon bald die Übersetzung liefern. Stell dir vor, er wäre nur auf die hochdeutsche Sprache programmiert. In Friesland, Bayern oder Mecklenburg könntest du damit Probleme bekommen. Deshalb hat er das zusätzliche Übersetzungsprogramm. Es ist genial. Nutze es und achte darauf, das Halsband nicht zu verlieren. Mehr konnte ich nicht für dich tun. Wir müssen uns jetzt schnell voneinander verabschieden.“

      Daniel war dankbar und einverstanden. Er war froh, dass es keine längere Verabschiedung gab. Müde war er und erschöpft. „Tu mir bitte noch einen Gefallen und beauftrage jemanden, von einem fremden Handy aus meine Freundin Ines anzurufen. Lass ihr bitte ausrichten, dass ich in Panik von zu Hause geflohen bin und alles dazu beitragen werde, meine Unschuld zu beweisen. Sie soll mir vertrauen, ich würde immer an sie denken und ihr tr… bleiben.“ Er verschluckte das Wort „treu“. Jedenfalls hatte er fest vor, sich nie wieder auf eine Affäre einzulassen. Daniel und Lore gaben sich die Hand. Am hinteren Schlossausgang wartete Lores „zuverlässigster Freund“ schon mit laufendem Motor.

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