Die Irrfahrten des Herrn Müller II. Florian Russi

Die Irrfahrten des Herrn Müller II - Florian Russi


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ergänzte Daniel und ließ keinen Zweifel an dieser Aussage aufkommen: „Es sollen die vortreten, die nie der unerlaubten geschlechtlichen Lust nachgegeben, nie mit einer Frau, mit der sie nicht verheiratet waren, geschlafen und nie sich in irgendeiner Form selbstbefriedigt haben.“ Tatsächlich traten zwei Männer vor.

      „Wie wollt ihr beweisen, dass ihr frei von Sünden seid? Sicherlich gibt es einige unter uns, die wissen, dass auch ihr gegen Gottes Gebote verstoßen habt. Man kann sich ja auch irren, und das Gedächtnis kann einen trügen. Ono aber vergisst nie.“ Daniel wunderte sich, dass Tamrud ihm nicht widersprochen hatte. Vielleicht hatte der „Alte“ ja tatsächlich einmal etwas Ähnliches gesagt. Es passte durchaus in das System einer Religion, die nur strengen Rigorismus kannte. Es war auch zu spüren, dass die Versammelten nicht damit einverstanden waren, dass zwei unter ihnen sich für besser hielten als die anderen.

      „Ich frage euch nochmals“, fuhr Daniel fort. „Könnt ihr beweisen, dass ihr bisher nie gesündigt habt?“

      „Das kann doch niemand“, antwortete der eine der beiden Vorgetretenen.

      „Noch weniger kann es meine Aufgabe sein, das für euch zu tun. Zieht euch also zurück, wenn ihr nicht wollt, dass euch Gottes Zorn trifft.“

      Betreten folgten die beiden seiner Aufforderung. Es wurde nur noch leise geredet. Auf Daniels Anweisung hin wurde die Ehebrecherin aus ihrer Lage befreit. Sie hatte Tränen in den Augen und wollte Daniel umarmen. Der aber hielt sie zurück und sagte deutlich hörbar. „Du hast gesündigt. Ono wird dir Gelegenheit geben, zu bereuen und Buße zu tun. Gepriesen sei sein Name!“ Nach kurzer Zeit löste sich die Gesellschaft auf. Selass aber warf Daniel einen hasserfüllten Blick zu. Der musste sich darauf einstellen, einen gefährlichen Feind bekommen zu haben.

      In der folgenden Zeit versuchte Selass immer wieder, Daniel mit theologischen Fragen zu provozieren und ins Unrecht zu setzen. Der jedoch war auf der Hut. Immer wieder erklärte er, dass er zum Lernen nach Jana gekommen sei und dabei große Hoffnungen und Erwartungen auch auf ihn, den anerkannten Theologen Selass, setze. Nur gelegentlich, wenn ihm die Äußerungen des Priesters allzu abstrus erschienen, berief er sich auf den „Alten von Berge“. Dann aber merkte er immer an, dass nur Tamrud in der Lage sei, die Lehren des Alten richtig zu deuten.

      Eines Tages kam Selass auf ihn zu und sagte, dass er ein Problem habe. „Zwei Burschen aus unserer Gemeinde haben sich gestritten. Dabei kam es zu einer Prügelei, und der eine hat dem anderen einen Zahn ausgeschlagen. Die Regel in unseren Schriften heißt für diesen Fall: ‚Auge um Auge und Zahn um Zahn‘. Wie würdest du an meiner Stelle jetzt entscheiden? Die Familien der Streithähne haben sich an mich gewandt. Ich bin mit beiden befreundet und suche nach einem Weg, der Gottes Geboten folgt und von allen akzeptiert werden kann.“

      „Um was für einen Zahn handelt es sich?“, fragte Daniel.

      „Um den Eckzahn in der linken Hälfte des Oberkiefers.“

      „Ich bin zwar nicht theologisch geschult wie du, würde aber folgenden Vorschlag machen: Der Bursche, der dem anderen den Zahn ausgeschlagen hat, geht zum Zahnarzt und lässt sich den entsprechenden Zahn aus seinem Oberkiefer entfernen. So wäre dem Gebot Genüge getan. Gleichzeitig sollte die Familie des Täters als Ausgleich an die Familie des Opfers 1 000 Gallonen zahlen. Damit könnten die erhitzten Gemüter abgekühlt werden.“

      Selass fand diesen Vorschlag überzeugend und hatte seit längerer Zeit mal wieder ein Lob für Daniel übrig. Als sie sich wenig später wieder trafen, wirkte Selass ein wenig verlegen. „Unser Vorschlag wurde von den Familien angenommen, doch der Bursche, um den es geht, verfügt nicht mehr über einen Eckzahn in der linken Hälfte seines Oberkiefers. Er hat ihn schon vor Jahren bei einem Unfall verloren. Ich habe deswegen das Problem theologisch lösen müssen. Die Familien haben sich auf die Zahlung von 2 000 Gallonen geeinigt.“

      Während Daniels Verhältnis zu Selass getrübt blieb, entwickelte sich das zu Tamrud zunehmend freundschaftlich. Der Priester, der etwa 30 Jahre älter war als er, sah in Daniel seinen wichtigsten und aufmerksamsten Schüler. Er zweifelte auch nicht daran, dass der junge Deutsche sich inzwischen zu Ono bekehrt hatte und es nur noch ein oder zwei Jahre Ausbildungszeit erforderte, und er werde ihn offiziell in den Priesterstand erheben können. Eines Tages sagte er zu ihm: „Du bist jetzt bald 20 Jahre alt, bist intelligent und hast eine solide und gottgefällige Laufbahn vor dir. Ich habe eine Tochter, Ilfa, die 14 Jahre alt ist. In ein paar Jahren könntest du sie heiraten und mit ihr eine Familie gründen. Sie würde dir anhängen und all das erfüllen, was du dir als zukünftiger Priester wünschst.“

      Daniel hatte inzwischen gelernt, sich jedes Wort, das er aussprach, vorher genau zu überlegen. „Es wäre für mich eine hohe Ehre“, antwortete er deshalb. „Ab welchem Alter darf deine Tochter denn heiraten?“

      „Mit 16 Jahren ist sie dazu reif.“ Tamrud griff in eine Seitentasche seines Gewandes und zog ein Bild hervor, das ein recht hübsches junges Mädchen zeigte. „Das ist sie“, sagte er stolz. „Persönlich kennen lernen darfst du sie allerdings erst kurz vor der Eheschließung.“

      ‚Also in zwei Jahren‘, fuhr es Daniel durch den Kopf. Bis dahin würde ihm noch viel Zeit bleiben. „Ich will gerne auf sie warten und werde mich bis dahin keiner anderen Frau zuwenden“, sagte er. Tamrud zeigte sich fröhlich und zufrieden. Er schien Daniel wirklich ins Herz geschlossen zu haben.

      Wenig später sagte Tamrud zu ihm. „Heute Morgen war ein junger Mann hier und bat mich, dir auszurichten, dass deine Uhr fertig repariert sei. Du könntest sie jederzeit abholen.“

      „Ach ja, meine Uhr“, erwiderte Daniel. „Die hatte ich längst vergessen.“ Nur mit Mühe konnte er seine Aufregung verbergen. Alexander hatte ihm gesagt, dass er sich nur in wichtigen Fällen an den Uhrmacher wenden dürfe. Es musste sich also etwas Besonderes ereignet haben. Ob man inzwischen den Mörder gefasst hatte? Er lief bei der ersten Gelegenheit zum Uhrmacher und zeigte ihm den Code. „Junger Mann, ich kenne Sie nicht“, sagte der. „Ich soll Ihnen nur ausrichten, dass in unserer schönen Stadt Jana ein Zielfahnder aus Deutschland eingetroffen ist. Was das für Sie bedeutet, werden Sie selbst wissen.“

      Daniel stieß einen Fluch aus. Er bat den Uhrmacher, ihm eine gebrauchte alte Armbanduhr zu verkaufen. „Ich benötige sie als Nachweis“, erklärte er, und der Uhrmacher verstand. Als Daniel zurückkam, fragte ihn Tamrud, bei welchem Uhrmacher er gewesen sei. Voller Misstrauen nannte ihm Daniel dessen Namen. „Wenn du wieder mal Probleme mit deiner Uhr hast, gehe zu Murich. Er ist ein hervorragender Handwerker und gehört unserer Gemeinde an. Der, bei dem du vorhin warst, ist ein Tabanist. Tabanisten glauben zwar auch an Ono, doch sie haben eigene Schriften und folgen dem Propheten Taban. Der war ein strenger Rigorist, der neben seinen eigenen Lehrmeinungen keine anderen zuließ.“

      Um in Ruhe nachdenken zu können, zog sich Daniel in sein Zimmer zurück. Man hielt ihn zu Hause also immer noch für einen Mörder. Die Polizei tat ihre Pflicht und ließ nichts aus. Er hatte in einem Fernsehfilm einen Bericht über Zielfahnder gesehen. Die schnüffelten hinter den Verdächtigten her, brachten in Erfahrung, wie sie ihr Leben gestalteten, ob sie bestimmte Vorlieben oder Neigungen hatten, ob und welche Zigarettenmarke sie rauchten, welchen Umgang sie hatten, wie sie ihren Tagesablauf gestalteten. Irgendwie hatten die deutschen Behörden herausbekommen, dass er sich in Jana aufhielt. Nun würde es nicht lange dauern, und der Zielfahnder würde herausfinden, dass er sich in einem Kloster versteckt hielt. Wenn er dann selbst wie ein Ono-Priester mit langem Bart, Haube und geistlichem Obergewand umherlief, war dies zunächst eine gute Tarnung. Ob sich aber ein geübter Zielfahnder dadurch ablenken ließ? Lore hatte ihm gesagt, dass er nicht ausgeliefert werden könne, weil zwischen Betanien und Deutschland kein Auslieferungsabkommen geschlossen worden sei. Was wollte der Fahnder also von ihm? Es konnte höchstens sein, dass er versuchen würde, ihn zur Rückkehr nach Deutschland zu überreden.

      Er überlegte, wie er den Zielfahnder in die Irre leiten oder abschütteln könnte.

      Ärgern musste er sich immer mehr über Selass. Der hielt während der Gottesdienste und Andachten immer häufiger Hetzreden gegen Andersgläubige, gegen die politischen Parteien, in denen Ungläubige die Oberhand behielten, gegen die Richter, die


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