Die Irrfahrten des Herrn Müller II. Florian Russi
Vater hat mich zu sich gerufen. Er ist außer sich. Irgendwer hat angeblich im Flugzeug fotografiert, wie ich mit dir zusammen war. Das Bild soll morgen in den Medien erscheinen. Das Foto ist, so heißt es, nicht sehr deutlich. Ich könnte es leugnen, doch die Presse und wohl auch unsere Nachrichtendienste sind schon hinter den Einzelheiten her. Das müssen wir durchstehen. Ich glaube dir, dass du niemanden umgebracht hast. Noch nie habe ich mit einem Mörder geschlafen und will das auch in Zukunft nicht tun. Das unterscheidet mich von vielen meiner Vorfahrinnen. Wenn die mit ihren hochadligen Angetrauten Verkehr hatten, waren eine Menge Mörder und Schlächter darunter.“
„Wenn die Medien über uns berichten, dann wäre es ja besser gewesen, ich hätte mich zu Hause der Polizei gestellt“, erwiderte Daniel erschrocken „Ich hatte solche Angst davor, in der Öffentlichkeit zerstückelt zu werden.“
„Meinem Vater gegenüber habe ich behauptet, ich hätte dich heute Morgen in die Innenstadt gebracht und dort ausgesetzt. Zum Glück war ich tatsächlich zu Besorgungen unterwegs. Mein Vater hat es sofort überprüfen lassen. Gottlob liegt noch kein Auslieferungsantrag gegen dich vor. Du musst jedoch so schnell wie möglich unser Land verlassen.“
„Bitte hilf mir dabei“, flehte er. „Wenn ich ihn unmittelbar erleben müsste, könnte ich weder den Rummel hier noch den in Deutschland ertragen.“
„Du kannst dich auf mich verlassen. Ich habe viele wichtige Freunde. Nur in meinem Schlafzimmer bist du nicht mehr sicher. Dort wird man bald nach dir suchen. Folge mir in einen anderen Raum. Er ist eines von 236 Zimmern in diesem Schloss. Wir nennen ihn ‚Salon Nabucco‘. Wir haben einige Räume nach Opern benannt. Sehr selten nur wird er genutzt, und dann nur für familiäre Besprechungen.“
Sie drängte zur Eile, und er ließ sich von ihr in den „Salon Nabucco“ führen. Das war ein geräumiges Zimmer mit rundem Tisch, mehreren Sesseln. An den Wänden standen schwere Eichenschränke und Bücherregale. Auf denen befanden sich mehrere Fotos aus der königlichen Familie. Daniel fielen vor allem diejenigen auf, die Lore als Dressurreiterin zeigten. Lore nahm eines davon in die Hände und zeigte es ihm stolz. „Es wurde nach den letzten nationalen Reitturnieren aufgenommen. Ich war zweimal Landesmeisterin. Das kann mir niemand nehmen. In diesem Zimmer bist du vorerst sicher“, ergänzte sie. „Damit du dich nicht langweilst, kannst du in den Büchern und Magazinen lesen. Viele befassen sich mit unserer Familie bis zum Beginn des letzten Jahrtausends. Es sind nicht nur schöne Geschichten. Die sind eher selten. Meistens geht es um Zweckheiraten, Intrigen, Machtkämpfe, Mord und Totschlag, auch um Frauen, die so ähnlich waren wie ich. Lass dich überraschen.“
Ihr Handy klingelte, und sie wurde bleich. „Schnell, ich muss dich im Schrank verstecken. Meine Eltern sind hierher unterwegs. Sie dürfen dich auf keinen Fall sehen.“ Sie öffnete die Tür zu einem breiten Schrank und schubste ihn hinein. Sekunden später wurde die Tür zum Salon geöffnet und Lores Eltern betraten den Raum. „Setz dich, Lore, wir haben mit dir zu reden“, sagte eine männliche Stimme. Daniel konnte mithören, was nun gesprochen wurde. Er war in einer unbequemen Lage, traute sich aber nicht, sich im Schrank zu bewegen.
„Du bringst es noch so weit, dass ich abdanken muss …“, erklärte der Vater erregt. „… und dass die Monarchie ganz abgeschafft wird“, ergänzte die Mutter. „Du bist Prinzessin, die Nummer drei in der Thronfolge. In jedem Jahr erhältst du vom Staat Geld und eine Menge Privilegien. Das hast du zu berücksichtigen. Du kannst nicht tun, was dir in den Sinn oder sonst wohin kommt. Deine private Sphäre ist eng. Als Mitglied unserer Familie hast du eine Vorbildfunktion. Lange genug waren wir bemüht, deine Eskapaden geheimzuhalten, zu vertuschen oder zu verniedlichen. Das geht nun nicht mehr. Alle Zeitungen schreiben darüber. In Kneipen wird über dich gespottet und gelästert. Du bringst mich, unsere Familie und die ganze Monarchie in Verruf. Was du da mit dem jungen Deutschen angestellt hast, setzt allem die Krone auf. Wir hatten dich zu Tante Agathe nach Deutschland geschickt, weil wir gehofft haben, sie würde einen guten Einfluss auf dich nehmen. Sie, die heute so hochgeschätzte Fürstin von Felsenstein, hat in ihrer Jugend auch keine Gelegenheit ausgelassen, sich den unterschiedlichsten Männern an den Hals zu werfen, Verwandten, Adligen, Bürgerlichen, Prinzen, Reitlehrern, Türstehern und Domestiken. Das alles ist längst vorbei. Sie führt eine vorbildliche Ehe, ist eine treusorgende Mutter, tut viele gute Werke und ist frei von Skandalen. Hat sie dir nicht helfen können?“
„Wie hätte sie mir helfen sollen? Sie hat sich alle Geschichten von mir erzählen lassen, jedes Detail hat sie interessiert. Vieles hat sie an die eigenen Erlebnisse erinnert, die sie nicht leugnet und die ihr viel Spaß gemacht haben. ‚Das legt sich irgendwann‘, hat sie gesagt. Wie ich ist sie der Meinung, dass jeder tun darf, was anderen nicht schadet. Alle Welt vögelt, die einen mehr, die anderen weniger. Es gibt derzeit mehr als sieben Milliarden Menschen. Wo kommen die alle her? Da muss doch viel Lust und Leidenschaft im Spiel sein. Stehen wir also dazu und gehen wir das Thema offen an. Was würde es schaden, lieber Vater, wenn du öffentlich erklären würdest: ‚Ich habe eine Tochter, die liebt den Sex und schämt sich nicht dafür. Außerdem ist sie eine hochbegabte Dressurreiterin, hatte in der Schule in Religion eine eins und beim Studium der Geschichte erreicht sie gute Noten. Sie kommt ihren Repräsentationspflichten als Prinzessin vorbildlich nach. Seien wir alle froh, dass wir sie haben.‘“
„Und schützt eure Söhne davor, ihr in die Hände zu geraten“, ergänzte die Mutter.
„Ich werde dir demnächst aus einer Mail vorlesen, die ich dieser Tage bekommen habe, liebe Mutter“, antwortete Lore. „Darin bedankt sich ein dir nicht unbekannter junger Mann dafür, dass ich ihn von seinen Verklemmungen befreit habe. Vergesst bitte auch nicht, dass ich einen wichtigen Beitrag für unsere Volkswirtschaft leiste. Der Soziologe Karason hat festgestellt, dass, wenn es mich nicht gäbe, die Auflagen unserer Zeitungen um 20 Prozent niedriger liegen würden als jetzt. Viele schimpfen über mein Tun, lesen darüber aber mit gierigen Augen, um sich anschließend wieder von Herzen empören zu können.“
„Diesen Karason darf man nicht ernst nehmen. Mit dem hattest du doch auch etwas“, erwiderte die Mutter.
„Ich stehe in der Tradition unserer Familie. Zwei Historiker haben geschrieben, dass unsere Stammmutter Eulalie es mit einem Stallburschen getrieben hat. Immer wenn ihr Mann, der König, auf Reisen war, musste der Junge bei ihr antreten. In diese Zeit fiel auch die Geburt des Thronfolgerns, unseres Vorfahren Gerold. Vom König selbst heißt es, dass er entweder impotent oder schwul gewesen sei. Die beiden Historiker haben das unabhängig voneinander festgestellt. Mit keinem von beiden hatte ich je ein Verhältnis. Sie sind schon seit über hundert Jahren tot.“
„Was sollen wir dann noch in unseren Ämtern, wenn selbst du als Prinzessin die Monarchie auf diese Art in Frage stellst?“, antwortete der Vater verärgert.
„Dieser Gedanke beschäftigt mich während meines Studiums immer wieder“, antwortete sie. „Ich glaube, viele Menschen mögen die Monarchie wegen ihres Bedürfnisses nach Sicherheit und Vertrautheit. In der Demokratie wird ständig um Macht und Einfluss gekämpft. Man kann nie sicher sein, wer sich dabei durchsetzt. In der Monarchie können zwar Missgeburten auftreten, aber Tradition und Erziehung wirken ausgleichend. Da die Nachfolge grundsätzlich mit der Geburt feststeht, kann sich die Gesellschaft langfristig darauf einstellen und sich rechtzeitig an die Thronerben gewöhnen. Das ist ja wohl auch der Grund, warum es inzwischen sogar in einigen sozialistischen Ländern Erbdiktaturen gibt. Es geht immer nur um Macht. Ideologien oder Staatsanliegen werden nur vorgeschoben.“
„Ich habe mich nie in mein Amt gedrängt und es immer als Zufall angesehen, dass ich zum König eines nicht unbedeutenden Landes geworden bin“, entgegnete der Vater. „Bevor ich mich weiter so sehr ärgern muss, kann ich resignieren und die Krone ablegen. Es bleiben mir genug andere Interessen.“
„Lass dich doch von Lore nicht derart aus dem Gleichgewicht bringen“, wandte die Königin ein. „Der Staat ist, wie er ist. Du hast Verantwortung übernommen. Auch müsste deine Nachfolge vorher noch geklärt werden.“
„Ich glaube nicht, dass der Kronrat zustimmen wird, wenn nach dem Gesetz unser Ältester an der Reihe wäre“, erwiderte der König. „Er kann ja nichts dafür, doch das Amt würde ihn überfordern. Da sind wir uns