BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder. Robert Mccammon
sah nach, dass Rebel in seinem Zwinger hinter dem Haus nicht in Gefahr war, dann klemmten meine Mom, Dad und ich uns in den Pick-up und fuhren zum Gerichtshaus, einem alten gotischen Bauwerk, das am Ende der Merchants Street stand. So gut wie überall war Licht an; die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Jetzt nieselte es nur, aber da die Kanalisation überflutet war, stand das Wasser unserem Auto bis an die Felgen. Manche Einwohner hatten überflutete Keller; aus genau diesem Grund war mein Freund Johnny Wilson mit seinen Eltern vorübergehend zu Verwandten nach Union Town gezogen.
Autos und Pick-ups bevölkerten den Gerichtsparkplatz. In der Ferne zuckten Blitze über den Himmel und die tiefhängenden Wolken leuchteten auf. Die Menschen wurden in den Konferenzsaal des Gerichtsgebäudes gescheucht, einen großen Raum mit einem Wandbild an der Decke, das Engel zeigte, die Baumwollballen umflogen. Das Bild war ein Überbleibsel von den Baumwollauktionen, die hier bis vor zwanzig Jahren abgehalten wurden, bevor die Baumwollfabrik mit ihren Lagerhallen ins flutsichere Union Town umgesiedelt wurde. Zum Glück fanden wir noch auf einer der roh gezimmerten Bänke Platz, denn es strömten so viele Menschen herein, dass bald kaum noch genügend Platz zum Atmen blieb. Jemand hatte die gute Idee, die Ventilatoren anzumachen, aber die heiße Luft, die den Menschen aus dem Mund stieg, schien unerschöpflich zu sein. Mrs. Kattie Yarbrough, eine der größten Plaudertaschen der Stadt, quetschte sich neben Mom und begann aufgeregt zu plappern, während ihr Mann, der auch für Green Meadows als Milchmann arbeitete, meinen Vater in die Zange nahm. Ich sah Ben mit Mr. und Mrs. Sears hereinkommen, aber sie setzten sich auf die andere Seite des Saals. Die Dämonin, deren Haare aussahen, als wären sie frisch mit Fett gekämmt worden, kam mit ihrer monströsen Mutter und ihrem spindeldürren Vater auf den Fersen herein. Sie fanden in unserer Nähe Plätze, und ich erschauderte, als die Dämonin meinen angewiderten Blick auffing und mich angrinste. Reverend Lovoy kam mit seiner Familie herein, Sheriff Amory und seine Frau und Töchter, die Branlins und Mrs. Parlowe, Mr. Dollar, Davy Ray und seine Eltern, Miss Blauglas und Miss Grünglas kamen, und noch viele andere Menschen, die ich weniger gut kannte. Es war voll.
»Ruhe, allesamt! Ruhe!« Mr. Wynn Gillie, der Vizebürgermeister, war an das Podium getreten, an dem früher der Auktionator gestanden und die Baumwolle versteigert hatte. Hinter ihm saßen Bürgermeister Luther Swope und Hauptbrandmeister Jack Marchette, der auch dem Zivilschutz vorstand, an einem Tisch. »Ruhe!«, brüllte Mr. Gillie. An seinem dürren Hals standen die Adern hervor. Das Gerede versiegte und Bürgermeister Swope erhob sich, um zu sprechen. Er war groß und schlank, ungefähr fünfzig Jahre alt und hatte ein langes, ernstes Gesicht. Seine grauen Haare waren von den Geheimratsecken aus nach hinten gekämmt. Er paffte stets eine Bruyèrepfeife wie eine Lokomotive, die an einem langen, steilen Hang Kohle verbrennt. Er trug immer Hosen mit perfekter Bügelfalte und Hemden, auf deren Brusttasche seine Initialen gestickt waren. Er sah wie ein erfolgreicher Geschäftsmann aus, und das war er auch: Ihm gehörten sowohl der Stagg Shop for Men als auch Zephyrs Eishaus, das sich schon seit Jahren im Besitz seiner Familie befand. Seine Frau, Lana Jean, saß neben Dr. Curtis Parrish und der Gattin des Arztes, Brightie.
»Ich nehme an, dass inzwischen alle die schlechten Nachrichten gehört haben«, begann Bürgermeister Swope. Er wirkte wie ein versierter Politiker, aber er redete, als hätte er den Mund voll mit Haferbrei. »Leute, uns bleibt nicht viel Zeit. Chief Marchette sagt, dass der Fluss schon die Hochwassermarke erreicht hat. Wenn der Damm von Lake Holman bricht, haben wir ‘n echtes Problem. Könnte die schlimmste Flutkatastrophe sein, die wir je erlebt haben. Was heißt, dass Bruton zuerst überflutet wird, weil’s am nahesten am Fluss liegt. Vandy, wo sind Sie?« Der Bürgermeister ließ den Blick durch den Saal schweifen. Mr. Vandercamp Senior hob seine arthritische Hand. »Mr. Vandercamp wird den Baumarkt öffnen«, sagte Bürgermeister Swope. »Er hat Schaufeln und Sandsäcke, mit denen wir unsern eigenen Damm zwischen Bruton und dem Fluss bauen können. Vielleicht können wir das Schlimmste vom Hochwasser eindämmen. Was bedeutet, dass alle mit anpacken müssen; Männer, Frauen und auch Kinder. Ich hab die Robbins Air Force Base angerufen. Sie senden uns ein paar Männer zur Hilfe. Aus Union Town kommen auch noch Leute. Jeder, der arbeiten kann, sollte also rüber nach Bruton fahren und sich bereithalten, Sand zu schaufeln.«
»Einen verdammten Moment mal, Luther!«
Der Mann, der soeben gerufen hatte, stand auf. Sein Anblick konnte einem nicht entgehen. Ich glaube, ein Buch über einen weißen Wal war nach ihm benannt worden. Mr. Dick Moultry hatte ein hochrot geschwollenes Gesicht und trug seine Haare so kurz rasiert, dass sie wie ein braunes Nadelkissen aussahen. Er hatte ein T-Shirt in der Größe eines Zelts an und Bluejeans, die meinem Dad, Chief Marchette und Bürgermeister Swope zusammen gepasst hätten. Er hob einen speckigen Arm und zeigte mit dem Finger auf den Bürgermeister. »Mir scheint, du willst, dass wir unsere eigenen Häuser vergessen! Jawohl! Unsere eigenen Häuser vergessen und uns abrackern, um einen Haufen Neger zu retten!«
Dieser Kommentar trieb einen Keil in den bisherigen Gemeinschaftssinn der Versammlung. Einige riefen, dass Mr. Moultry das falsch sah, andere brüllten, er hätte recht.
»Dick«, sagte Bürgermeister Swope und schob sich die Pfeife in den Mund. »Du weißt, dass das Hochwasser immer in Bruton anfängt. Das ist Tiefland. Wenn wir das Wasser da eindämmen können, dann …«
»Und wo sind die Leute aus Bruton?«, fragte Mr. Moultry. Sein großer quadratischer Kopf drehte sich nach links und rechts. »Ich sehe hier kein schwarzes Gesicht! Wo sind sie? Wieso sind sie nicht hier und fragen uns um Hilfe?«
»Weil sie nie um Hilfe fragen.« Der Bürgermeister stieß eine blaue Rauchwolke aus: Die Lokomotive wurde angeheizt. »Ich kann dir garantieren, dass sie jetzt in diesem Augenblick am Fluss sind und versuchen einen Damm zu bauen, aber um Hilfe würden sie nicht fragen, selbst wenn ihnen das Wasser bis ans Dach steht. Die Lady würde das nie erlauben. Aber sie brauchen unsere Hilfe, Dick. Genau wie letztes Mal.«
»Wenn die auch nur einen Funken Verstand hätten, würden sie da wegziehen!«, beharrte Mr. Moultry. »Scheiße auch, ich hab die Schnauze voll von dieser verdammten Lady! Was bildet die sich eigentlich ein, wer sie ist, eine verdammte Königin?«
»Setz dich wieder hin, Dick«, wies Chief Marchette ihn an. Der Hauptbrandmeister war ein großer Mann mit einem markanten Gesicht und stechend blauen Augen. »Wir haben keine Zeit, darüber zu streiten.«
»Schwachsinn!« Mr. Moultry hatte beschlossen, starrköpfig zu sein. Sein Gesicht lief so rot an wie ein Feuerhydrant. »Lass die Lady Fuß aufs Land von uns Weißen setzen und uns um Hilfe fragen!« Das rief einen Sturm von Beifallsrufen und Gegenstimmen hervor. Mr. Moultrys Frau Feather stellte sich neben ihn und brüllte: »Himmel und Hölle, ja!« Sie hatte platinblonde Haare und war alles andere als federleicht. Mr. Moultry grölte über den Lärm hinweg: »Ich reiß mir doch nicht für Neger den Arsch auf!«
»Aber Dick«, sagte Bürgermeister Swope verwirrt, »es sind doch unsere Neger.«
Das Geschrei und Gegröle ging weiter. Manche Menschen sagten, es sei unsere Pflicht als Christen, Bruton davor zu bewahren, überflutet zu werden, und andere machten ihre Hoffnung laut, dass das Hochwasser Bruton ein für alle Mal von der Landkarte waschen würde. Meine Eltern waren still wie auch die meisten anderen; es war ein Krieg der Schreihälse.
Plötzlich breitete sich Stille aus. Sie begann hinten im Saal, wo eine Menschentraube in der Tür stand. Jemand lachte, aber das Lachen erstickte fast sofort. Ein paar Leute murrten und grummelten. Und dann betrat ein Mann den Saal. Man hätte den Eindruck bekommen können, dass das Rote Meer sich teilte, so wie die Menschen vor ihm zurückwichen, damit er Platz hatte.
Der Mann lächelte. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht und braune Haare, die über eine hohe Stirn hingen.
»Was soll denn das Geschrei?«, fragte er. Er sprach mit Südstaatenakzent, aber man hörte, dass er ein gebildeter Mann war. »Gibt es hier Probleme, Bürgermeister Swope?«
»Äh … nein, Vernon. Keine Probleme. Oder, Dick?«
Mr. Moultry sah aus, als wollte er ausspucken und eine Grimasse ziehen. Das Gesicht seiner Frau unter den platinblonden Locken war so rot wie eine Rübe. Ich hörte die Branlins kichern, aber irgendwer brachte sie zum Schweigen.