BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder. Robert Mccammon

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder - Robert Mccammon


Скачать книгу
die mich auf die Welt gebracht hatten. Seine buschigen dunklen Augenbrauen wölbten sich über stahlgrauen Augen und die dunkelbraunen Haare unter dem Regenhut waren an den Schläfen grau. »Ich habe eben von Chief Marchette gehört, dass sie die Turnhalle von der Schule geöffnet haben«, sagte Dr. Parrish zu Mom. »Sie stellen Öllampen auf und bringen Pritschen und Decken hin. Die meisten Frauen und Kinder sind auf dem Weg dahin, jetzt, wo das Wasser so stark steigt.«

      »Dann sollten wir auch dort hingehen?«

      »Das wäre das Vernünftigste, denke ich. Es hilft ja nicht, wenn Sie mit Cory hier draußen in diesem Schlamassel stehen.« Er zeigte wieder mit der Taschenlampe in die Dunkelheit, diesmal vom Fluss weg auf den durchtränkten Basketballplatz, bei dem wir geparkt hatten. »Da drüben holen sie alle ab, die in die Turnhalle wollen. Das nächste Auto kommt wahrscheinlich in ein paar Minuten.«

      »Aber Dad weiß dann nicht, wo wir sind!«, protestierte ich. Die grüne Feder und das Messer gingen mir noch immer nicht aus dem Sinn.

      »Ich werd’s ihm sagen. Tom wird wollen, dass Sie beide in Sicherheit sind, Rebecca. Um ehrlich zu sein, werden wir noch vorm Morgengrauen in den Dachstuben Welse angeln können, so, wie das aussieht.«

      Wir waren nicht schwer zu überzeugen. »Brightie ist schon da drüben«, sagte Dr. Parrish. »Sie sollten im nächsten Auto mitfahren. Hier, nehmen Sie.« Er gab Mom die Taschenlampe und wir drehten dem angeschwollenen Tecumseh den Rücken zu und gingen auf den Basketballplatz zu.

      »Lass bloß nicht meine Hand los!«, warnte Mom mich, als das Hochwasser uns umspülte. Ich warf einen Blick zurück und konnte nur sehen, wie sich die Lampenstrahlen im Dunkeln bewegten und auf dem dahinströmenden Wasser glitzerten. »Pass auf, wo du hintrittst!«, sagte Mom.

      Weiter hinten am Ufer, an der Stelle vorbei, an der mein Vater arbeitete, fingen die Leute plötzlich an zu schreien. In dem Moment wusste ich nicht, weshalb, aber eine schaumgekrönte Welle hatte den höchsten Punkt des Erdwalls überspült. Das Wasser strudelte und schäumte, und als der Fluss durch die Barrikaden brach, erkannten die Männer, dass sie bis zu den Ellbogen in Schwierigkeiten steckten. Der Lichtschein einer Taschenlampe fiel auf braungefleckte Schuppenhaut im schmutzigen Schaum. »Schlangen!«, brüllte jemand. In der nächsten Sekunde wurden die Männer von der reißenden Strömung von den Füßen gehoben. Mr. Stellko, der Leiter des Lyric, alterte um zehn Jahre, als er haltsuchend die Hand ausstreckte und im wirbelnden Wasser ein baumgroßes, schuppenhautiges Wesen an sich vorbeitreiben spürte. Mr. Stellko verlor die Stimme und machte sich gleichzeitig in die Hose, und als er wieder schreien konnte, war das monströse Reptil fort, dem Hochwasser in die Straßen von Bruton folgend.

      »Hilfe! So hilf mir doch jemand!«

      Wir hörten in der Nähe die Stimme einer Frau, und Mom sagte: »Warte.«

      Jemand kam mit einer Öllampe platschend auf uns zu. Regen zischte auf dem heißen Glaszylinder der Lampe und verdampfte. »Bitte helfen Sie mir doch!«, rief die Frau.

      »Was ist denn?« Mom lenkte den Strahl ihrer Taschenlampe auf das angstverzerrte Gesicht einer jungen schwarzen Frau. Ich kannte sie nicht, aber Mom sagte: »Nila Castile? Sind Sie das?«

      »Ja, Ma’am, ich bin’s, Nila! Wer sind Sie?«

      »Rebecca Mackenson. Ich hab Ihrer Mutter früher Bücher vorgelesen.«

      Das musste gewesen sein, bevor ich geboren war, nahm ich an.

      »Mein Daddy, Miz Rebecca!«, sagte Nila Castile. »Ich glaub, sein Herz will nicht mehr!«

      »Wo ist er?«

      »Im Haus! Da drüben!« Sie zeigte in die Dunkelheit. Das Wasser strömte ihr um die Taille. Mir reichte es jetzt bis an die Brust. »Er kann nicht aufstehen!«

      »Ist gut, Nila. Beruhigen Sie sich.« Meine Mutter, die eine einzige Sammlung von Ängsten mit einer Abdeckung aus Haut war, wurde überraschend ruhig, wenn jemand anderes um Fassung rang. So wie ich das verstand, gehörte das zum Erwachsensein. Wenn es dringend gebraucht wurde, konnte meine Mutter etwas an den Tag legen, das meinem Granddaddy Jaybird aufs Bitterste fehlte: Mut. »Führen Sie uns hin«, sagte sie. Das Hochwasser drang in die Häuser von Bruton ein. Nila Castiles Haus war, wie so viele andere, eine schmale graue Hütte. Sie führte uns durch das uns umspülende Wasser darauf zu und rief im Haus: »Gavin! Ich bin wieder da!«

      Ihr Lampenlicht und das von Mom fiel auf einen alten schwarzen Mann, der bis zu den Knien im Wasser auf einem Stuhl saß. Zeitungen und Magazine trieben in der Strömung. Seine Hand war über seinem Herzen in sein nasses Hemd gekrallt. Sein dunkles Gesicht war von Schmerzen verzerrt. Er hatte die Augen zugekniffen. Neben ihm stand ein kleiner Junge, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, und hielt seine andere Hand.

      »Grandpa weint, Momma«, sagte der kleine Junge.

      »Ich weiß, Gavin. Daddy, ich habe Hilfe geholt.« Nila Castile stellte ihre Lampe auf einen Tisch. »Kannst du mich hören, Daddy?«

      »Ohhhhh«, stöhnte der alte Mann. »Tut diesmal furchtbar weh.«

      »Wir helfen dir aufzustehen. Wir müssen dich hier rausholen.«

      »Nein, Schatz.« Er schüttelte den Kopf. »Alte Beine … weg.«

      »Was sollen wir nur machen?« Nila sah meine Mutter an, und ich sah helle Tränen in ihren Augen glitzern.

      Der Fluss zwängte sich ins Haus. Draußen sprach der Donner und Blitze zuckten. Wäre es eine Fernsehsendung gewesen, käme nun die Werbung.

      Aber das wahre Leben macht keine Pause. »Eine Schubkarre«, sagte meine Mutter. »Haben Sie eine?«

      Nila verneinte, aber dass sie sich eine von einem Nachbarn geliehen hatten, die vielleicht noch hinten auf der Veranda stand. »Du bleibst hier«, sagte Mom zu mir und gab mir die Öllampe. Jetzt musste ich mutig sein, ob ich wollte oder nicht. Mom und Nila verließen mit der Taschenlampe das Zimmer und ich stand mit dem kleinen Jungen und dem alten Mann im überflutenden Wohnzimmer.

      »Ich bin Gavin Castile«, sagte der kleine Junge.

      »Ich bin Cory Mackenson«, antwortete ich.

      Es ist schwer, höflichen Smalltalk zu halten, wenn man bis zur Hüfte in braunem Wasser steht und das flackernde Licht nicht bis zu den Wänden reicht.

      »Das hier ist mein Grandpa, Mr. Booker Thornberry«, fuhr Gavin fort, der den alten Mann immer noch bei der Hand hielt. »Er ist krank.«

      »Wieso seid ihr hier nicht raus, als alle anderen aus ihren Häusern weg sind?«

      »Weil das hier mein Haus ist, Junge«, sagte Mr. Thornberry, der sich zu berappeln schien. »Mein Zuhause. Ich hab keine Angst vorm verdammten Fluss.«

      »Alle andern schon«, sagte ich. Alle, die bei Verstand sind, meinte ich.

      »Dann soll’n die andern halt alle weglaufen.« Mr. Thornberry verzog das Gesicht, als ihn ein neuer Schmerz durchfuhr. Ich begann zu ahnen, dass er so starrköpfig wie Granddaddy Jaybird war. Er blinzelte langsam. Seine dunklen Augen starrten mich aus seinem knochigen Gesicht an. »Meine Rubynelle ist hier in diesem Haus gestorben. Hier. Ich werd‘ nich‘ in ‘nem Krankenhaus voll mit weißen Leuten sterben.«

      »Wollen Sie denn sterben?«, fragte ich ihn.

      Er schien darüber nachzudenken. »Ich werd‘ in meinem eigenen Haus sterben«, antwortete er.

      »Das Wasser steigt immer höher«, sagte ich. »Vielleicht werden alle ertrinken.«

      Der alte Mann blickte finster drein. Dann drehte er den Kopf und sah auf die kleine schwarze Hand hinunter, an der er sich festhielt.

      »Mein Grandpap ist mit mir ins Kino gegangen!«, sagte Gavin, während das Wasser auf seinen Hals zustieg. »Wir haben einen Zeichentrickfilm gesehen!«

      »Bugs Bunny«, sagte der alte Mann. »Wir haben uns Bugs Bunny und den Stotterer angeguckt, der wie ’n Schwein aussieht. Stimmt’s, mein Junge?«

      »Ja,


Скачать книгу