Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
kleine Sibylle, von der Reise ziemlich müde, sah den Jungen, der sehr viel älter war als sie, selbst zweifelnd an. »Ich will eigentlich nicht«, gestand sie zögernd. »Aber meine Tante hat es so bestimmt.«
»Schau es dir nur erst an«, meinte Nick zuversichtlich und ergriff die beiden großen Koffer. »Meine Mutti freut sich schon auf dich.«
»Sie kennt mich doch gar nicht«, wunderte sich Sibylle.
»Sie hat alle Kinder lieb. Dich auch.«
Nicks ausdrucksvolle dunkle Augen blickten so freundlich drein, dass Billchen ein wenig Mut schöpfte. Draußen vor dem Bahnhof wartete ein großer Wagen mit einem Chauffeur, der die beiden Reisenden und ihr Gepäck fürsorglich verstaute, wobei Nick ihm sachkundig zur Hand ging.
Unterwegs bemühte sich Nick, ein Gespräch mit Sibylle anzufangen, doch das kleine Mädchen gab nur kurze Antworten und blickte meist aufmerksam zum Fenster hinaus. Barbara dagegen unterhielt sich nur zu gern mit dem lebhaften, aufgeweckten Jungen, der ihr einiges über Sophienlust erzählte.
»Ich habe das Gut von meiner Urgroßmutter geerbt. Sie hat bestimmt, dass das Gutshaus eine Zuflucht für Kinder und in Not geratene Erwachsene werden soll. Als wir nach Sophienlust kamen, war ich erst fünf Jahre alt. Meine Mutti hat das Heim gegründet. Doch jetzt kommt es uns vor, als wäre alles schon immer so gewesen. Wir nennen es das Haus der glücklichen Kinder.«
»Das hört sich gut an. Was macht denn dein Vater?«
Dominik räusperte sich. »Mein richtiger Vater hieß Dietmar von Wellentin und ist gestorben, noch ehe ich geboren wurde. Später hat meine Mutti wieder geheiratet. Das Nachbargut von Sophienlust heißt Schoeneich. Dort wohnte damals mein zweiter Vati mit seinen Kindern Sascha und Andrea. Seine Frau war gestorben. Mutti und er hatten sich gleich lieb, als sie einander begegneten. So bekamen Sascha und Andrea eine Mutti und ich endlich einen prima Vati. Inzwischen ist Sascha schon Student, und Andrea verheiratet. Dafür gibt es zu Hause noch unseren Jüngsten. Er heißt Henrik und stammt aus Muttis zweiter Ehe.«
»Meine Güte«, seufzte Billchen. »Das ist eine verwirrende Geschichte. Dann hast du also zwei Vatis?«
Billchen sah den großen Jungen nachdenklich an. »Ich habe keinen Vater und keine Mutter«, sagte sie leise. »Nur Tante Anita.«
»In Sophienlust sind eine Menge Kinder, die keine Eltern haben«, versuchte Nick zu trösten und strich über Billchens weiches Haar. »Das vergisst du bei uns. Mutti ist für alle da. Außerdem kümmert sich Frau Rennert um die Kinder. Sie ist sehr lieb und wird Tante Ma genannt. Schwester Regine betreut die ganz Kleinen, und Herr Rennert ist unser Hauslehrer.«
»Ist er Frau Rennerts Mann?«, warf Barbara ein, die genau zuhörte und sich Mühe gab, einen möglichst guten Einblick zu gewinnen.
Nick lachte. »Nein, ihr Sohn. Er ist schon verheiratet und hat niedliche Zwillinge.«
»Gibt es Hausunterricht?«, wollte Barbara wissen.
»Nur wenn es nötig ist. Wir fahren sonst mit Bussen zur Schule. Ein Bus transportiert die Grundschüler, der andere die Kinder, die schon aufs Gymnasium gehen. Herr Rennert hilft nur aus, falls ein Kind nicht mitkommt oder krank ist. Sonst beaufsichtigt er die Schularbeiten, musiziert mit uns oder organisiert sportliche Veranstaltungen. Bei uns ist nämlich immer viel los. Schon wegen der Pferde.«
»Reiten die Kinder?«, fragte Barbara.
»Ja. Wir haben Ponys und Pferde. Wenn Jugendwettbewerbe im Reiten stattfinden, holen wir alle Preise nach Sophienlust. Das ist Ehrensache. Wenn Sibylle Tiere mag, wird sie viel Spass bei uns haben. Bei uns gibt es einen Gutshof mit Tieren, und außerdem haben manche Kinder eigene Tiere. Zum Beispiel Goldhamster, Meerschweinchen, Hunde, Katzen, Kanarienvögel. Wir sind nämlich große Tiernarren. Meine Schwester Andrea hat obendrein ein Heim für verlassene Tiere gegründet. Da gibt es sogar eine Bärin mit zwei Jungen, zwei Esel, eine Ringelnatter, zwei Füchse, einen Dachs, zwei Schimpansen und ein Reh. Die Hauptperson ist Waldi, ein Langhaardackel, mit seiner Dackeline Hexe und den beiden Dackelkindern Pucki und Purzel. Nach ihm ist das Heim benannt: Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere.«
»Ich mag Tiere gut leiden«, äußerte Sibylle schüchtern. »Aber ich glaube, dass ich vor dem Reiten Angst hätte. Lieber möchte ich mit dem Lehrer Musik machen.«
»Das kannst du dir aussuchen«, erwiderte Nick.
»Billchen ist musikalisch«, berichtete Barbara. »Sie sucht sich ganz allein auf dem Klavier alle Lieder zusammen, die sie kennt.«
Sibylle warf ihr einen scheuen Blick zu. »Aber Tante Anita will nicht, dass ich klimpere.«
»In Sophienlust kannst du klimpern. Sieh mal, da drüben ist unser Gutshaus. Wir sind gleich da.«
»Schoeneich oder Sophienlust?«, fragte Barbara.
»Sophienlust. Schoeneich kann man von hier aus nicht sehen. Aber es gibt eine direkte Verbindungsstraße zwischen den Gütern. Das ist nötig, denn wir Schoeneckers wohnen ja in Schoeneich. Mutti muss täglich nach Sophienlust, Vati ebenfalls, weil er beide Güter bewirtschaftet.«
Das stolze Gutshaus erweckte Barbaras Begeisterung. »Es macht beinahe den Eindruck eines kleinen Schlosses«, meinte sie.
»So sagen viele. Für uns ist es das Haus der glücklichen Kinder. Da – wir werden schon begrüßt.«
Der Fahrer stoppte den Wagen vor dem Haupteingang, wo eine Gruppe von Kindern fröhlich winkte. »Hurra, hurra – sie sind da!«, schrie ein kleiner Bub.
»Das ist mein Bruder Henrik«, erklärte Nick lachend.
Die Kinder drängten sich um das Auto und streckten der scheuen kleinen Neuen die Hände hin.
»Es gibt Schokoladentorte«, verriet Vicky. »Magst du Schokoladentorte, Sibylle?«
»Ich kann dir dein Zimmer zeigen«, erbot sich Heidi Holsten. »Tante Isi hat dir ein Geschenk hingelegt«, fügte sie geheimnisvoll hinzu.
»Wer ist Tante Isi?«, warf Billchen unsicher ein.
»Meine Mutti natürlich«, verkündete Henrik. »Alle Kinder haben sie lieb.«
Sibyllchen schaute etwas ratlos in die fröhlichen Kindergesichter.
Ein größeres Mädchen mit blondem Haar ergriff ihre Hand. »Ich bin Irmela. Komm, wir gehen erst mal ins Haus. Du kannst ja nicht gleich mit allen auf einmal reden. Nick, willst du Frau Küster zu deiner Mutti bringen? Sie wartet schon im Biedermeierzimmer.«
»Geht in Ordnung, Irmela«, erwiderte Nick. »Ich nehme gleich die Koffer mit.«
»Es ist das Zimmer neben Heidi.«
»Weiß ich.«
Irmela nahm sich Sibylles an, die sich ohne Widerstreben von ihr wegführen ließ. Barbara folgte Nick.
Die erfahrene Haushälterin erkannte auf den ersten Blick, dass das Haus zweckmäßig und schön eingerichtet und dazu außerordentlich gut gepflegt war.
Eine Dame mittleren Alters trat ihr entgegen.
»Frau von Schoenecker?«, fragte Barbara.
»Nein, ich bin Frau Rennert. Darf ich Sie willkommen heißen? Frau von Schoenecker erwartet Sie.«
Eine Tür öffnete sich. Dann blickte Barbara in ein Paar wundervolle dunkle Augen und wusste, dass sie Nicks Mutter vor sich hatte. Mit ihrer schlanken Gestalt und dem feinen, edel geformten Gesicht wirkte Denise von Schoenecker fast mädchenhaft jung. Dennoch ging eine starke Ausstrahlung von Güte und menschlicher Reife von ihr aus. Barbara Küster, die Anitas Entscheidung bis zu diesem Augenblick verurteilt hatte, spürte, dass ihr geliebtes Billchen hier eine Herzensheimat finden konnte.
»Hatten Sie eine gute Reise?«, fragte Denise warm.
Barbara bedankte sich. »Es war lieb von Ihrem Sohn, dass er uns abgeholt hat. Unterwegs erfuhr ich schon allerlei über das Heim.«
»Nick