Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
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Wolfgang Rennert nahm Sibylles Hand. »Tante Isi hat mir gesagt, dass du gern Musik machen möchtest. Hast du es schon mal auf unserem Flügel versucht?«
Das Kind hob die großen ernsten Augen zu ihm auf. »Ich dachte, das ist nicht erlaubt. Meine Tante mochte es nicht leiden, wenn ich mir ein Lied zusammensuchte. Ekelhaftes Geklimper, sagte sie nur.«
»Probieren wir es mal, Billchen.«
Im Allgemeinen musste man Sibylle mehrmals zureden, wenn man ihr einen Vorschlag machte. Doch diesmal schloss sie sich dem Hauslehrer sofort an. Im Musikzimmer schaute sie mit angehaltenem Atem zu, wie er den Deckel über den Tasten des Flügels hochklappte, und lauschte still, als er ein einfaches Kinderlied spielte.
»Jetzt du«, ermunterte er sie.
Sibylle stellte sich an das Instrument. Sie zögerte nur kurz. Dann spielte sie ein Wiegenlied, dessen Text sie leise sang. Mit der rechten Hand tippte sie die Melodie, ohne sich auch nur einmal zu vergreifen, mit der linken schlug sie einfache Akkorde dazu an. Das geschah mit erstaunlicher Sicherheit und ohne jede Disharmonie.
»Sehr hübsch. Wer hat dir das beigebracht, Billie?«
»Niemand. Ich habe es mir selbst ausgedacht. Aber ich möchte richtig spielen. Ich weiß nicht, wie man die Finger setzt. Wenn unsere Lehrerin in der Schule spielte, klang es viel besser.«
Wolfgang Rennert war begeistert. Sibylle war ein Naturtalent. Daran gab es keinen Zweifel. Er summte einen Ton und fragte sie, ob sie ihn auf den Tasten finden könne. Sie schlug sofort die richtige Taste an. Das wiederholte sich mehrere Male.
Absolutes Gehör, stellte der junge Lehrer bei sich fest. Das gibt es nicht oft. Es wird eine Freude sein, diesem Kind etwas beizubringen.
»Kannst du mehr spielen?«, ermutigte er sie.
»Ja, eine ganze Menge, aber auch nur so.«
Sibylle trug nun ihr gesamtes Repertoire vor. Es war ziemlich groß, und sie fand sich sogar mit Modulationen zurecht, weil ihr musikalisches Ohr ihr stets den richtigen Weg wies.
»Möchtest du richtig spielen lernen?«, fragte Wolfgang Rennert. »Es ist nicht ganz leicht. Du wirst jeden Tag üben müssen, denn die Finger brauchen lange, bis sie richtig flink über die Tasten laufen können.«
Sibylle holte tief Atem. »Am liebsten möchte ich gleich anfangen, Herr Rennert. Aber Sie haben jetzt bestimmt keine Zeit.«
»Doch, Billchen. Ich gehe nur schnell in unsere Wohnung drüben im Anbau und hole die Klavierfibel. Du musst nämlich auch Noten lernen. Wir wollen es richtig und gründlich machen.«
Sibylle strahlte ihn an, als sei Weihnachten. »Ich habe es mir immer gewünscht, Herr Rennert. Manchmal wollte ich Tante Isi fragen, ob ich auf dem großen Flügel ein bisschen klimpern darf. Aber dann bekam ich Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, Billchen. Fragen kostet nichts. Tante Isi hat lange darüber nachgedacht, wie sie dir eine Freude machen könnte. Dabei ist ihr die Musik ganz zuletzt eingefallen.«
»Meine Mutter hat auch viel Musik gemacht. Ich weiß es von unserer Barb. Ihre Geige steht noch auf dem Speicher. Einmal bin ich hinaufgeschlichen und habe sie aus dem Kasten genommen. Aber es war nur noch eine Saite darauf.«
»Fangen wir mit dem Klavier an, Billchen. Du wirst staunen, wie rasch wie ein paar Stücke zusammen spielen können. Aber du musst mir versprechen, dass du nicht die Lust verlieren wirst, wenn wir Tonleitern üben und es ein bisschen langweilig wird.«
»Musik ist nicht langweilig«, versicherte Sibylle ernsthaft. »Holen Sie jetzt das Buch mit den Noten?«
»Ja, ich beeile mich.«
In den folgenden anderthalb Stunden erlebte Wolfgang Rennert ein kleines Wunder. Sibylle war so begabt, dass sie das, was er ihr erklärte, im Augenblick erfasste. Ihre kleinen Hände waren geschickt, ihre Anschläge präzise und sicher. Sie lernte in der ersten Klavierstunde ihres Lebens so viel, dass der Lehrer am Ende einen Schrecken bekam.
»Wir müssen aufhören für heute«, erklärte er bestürzt. »Es wird zu viel. Du kannst das nicht alles im Kopf behalten.«
Sibylle lachte ihn an. Ja, sie lachte. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Sophienlust.
»Das vergisst man doch nicht. Ich weil, wie es klingen muss. Soll ich Ihnen das hier noch einmal vorspielen? Ich brauche gar nicht mehr auf die Noten zu schauen. C – G – H – C, nicht wahr, so fängt es an?«
»Du bist wirklich schneller als alle meine bisherigen Schüler. Hast du es nicht doch schon einmal gelernt?« Wolfgang Rennert konnte es einfach nicht glauben.
»Ehrlich nicht, Herr Rennert. Es fällt mir ganz leicht. Darf ich weiterüben, wenn Sie jetzt gehen?«
»Du darfst spielen, soviel du willst, Billchen.«
Sibylles zierliche Finger glitten bereits wieder über die Tasten. Zum Mittagessen erschien sie mit glühenden Wangen und ließ sich den Teller nachfüllen. Das war noch nie vorgekommen. Im Gegenteil, hin und wieder war sogar ein Rest auf ihrem Teller zurückgeblieben.
Irmela, die ein bisschen Klavier spielen konnte, staunte über Billchens Eifer. »Macht dir das denn Spass? Ich war froh, als ich keine Stunden mehr nehmen musste.«
»Ich möchte von früh bis abends am Klavier sitzen. Hoffentlich zeigt mir Herr Rennert heute Nachmittag noch etwas Neues«, antwortete Billchen mit heller Stimme. »Es ist nicht schwer. Eigentlich geht es beinahe von selbst. Nur meine Hände müssten größer sein, damit ich besser greifen kann.«
»Du wächst ja«, tröstete Irmela. »Noch ein bisschen Fleisch?«
»Ein ganz kleines Stück bitte. Komisch, dass Musik hungrig macht.«
Sibylle verzehrte auch das dritte Stück Fleisch. Hinterher löffelte sie noch eine große Portion Himbeergrütze mit Vanillesoße.
Frau Rennert registrierte die Veränderung des Kindes mit heimlicher Freude. Ihr Sohn hatte ihr bereits erzählt, mit welchem Eifer Sibylle bei der Sache war.
Kaum war die Tafel aufgehoben, kehrte Sibylle auch schon ins Musikzimmer zurück. Henrik, der an diesem Tag mit den Kindern in Sophienlust gegessen hatte – wegen der Himbeergrütze –, schloss sich ihr an.
»Versuch doch mal was anderes«, forderte er sie auf, nachdem sie die vorgeschriebenen Übungen viermal fehlerfrei durchgespielt hatte.
»Was denn?«
»Irgendetwas. Ein Lied oder so etwas.«
Sibylle dachte ein Weilchen nach. Dann tippte sie zaghaft mit einem Finger eine Melodie. Es hörte sich zart und beschwingt an, zumal sie mit leiser Stimme die zweite Stimme dazu summte.
»Was ist das?«, fragte Henrik. »Es klingt schön.«
»Ich weiß es nicht. Ich habe es manchmal im Radio gehört. Jetzt will ich noch ein bisschen Begleitung dazu machen.«
Henrik schaute mit großen Augen zu, wie sie ein paar Dreiklänge anschlug. Dann wiederholte sie die Melodie. Es hörte sich fast wie ein kleines Konzert an.
»Das könnte ich nicht«, gestand Henrik freimütig. »Woher weißt du, wie es klingen muss? Bei mir hört es sich nämlich grauslich an.«
Er ging an die Tasten und intonierte mit einem Finger. »Fuchs, du hast die Gans gestohlen.« Mehrmals erwischte er eine falsche Taste. Und als er mit der linken Hand eine Begleitung dazu spielen wollte, wurde es die reinste Katzenmusik.
Sibylle lachte und hielt sich die Ohren zu. »Merkst du nicht selbst, dass das ganz falsch ist, Henrik? Das tut mir richtig weh im Kopf.«
Henrik sah sie verständnislos an. »Weh tut es mir nicht«, meinte er. »Aber schön klingt es nicht. Das stimmt.«
Die Tür öffnete sich, und Wolfgang Rennert trat ein.
»Spiel