Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Sibylle schüttelte das Köpfchen. »Ich bleibe lieber hier, Tante Isi. Zu essen brauche ich nichts.«
Hans-Joachim von Lehn schloss sich seinen Schwiegereltern an, denn er wollte eine Erfrischung zu sich nehmen.
Das kleine Mädchen sah sich plötzlich allein. Aufmerksam betrachtete es die leeren Stühle des Orchesters, die Instrumente, soweit sie zurückgelassen worden waren. Immer wieder wurde sein Blick magisch von dem großen aufgeschlagenen Konzertflügel angezogen.
Niemand achtete auf Sibylle, als sie aufstand und die Stufen hinaufstieg, die zum Podium führten. Niemand bemerkte, dass sie durch die Tür schlüpfte, durch die die Künstler auf die Bühne gekommen waren.
*
Thilo Bach schaute einigermaßen verblüfft auf die Tür, die sich lautlos und behutsam öffnete. Er hatte ausdrücklich darum gebeten, ungestört zu bleiben.
»Wo kommst du denn her?«, fragte er lächelnd, als das kleine Mädchen sich durch den Türspalt zwängte.
Sibyllchen sah ihn glückselig an. »Ich habe Sie gesucht.«
»Gesucht hast du mich? Sitzt du nicht in der ersten Reihe?«
»Ist es schwer, so zu spielen?«, fragte Sibyllchen, ohne auf des Künstlers Worte einzugehen. »Es sieht aus, als ginge es von selbst.«
»Willst du es lernen? Da musst du sehr viel üben, kleine Dame. Soll ich dir mal etwas vorspielen?«
Sibylle nickte nur. Sie fühlte sich zu dem blonden Mann, der mit seinen Händen den Flügel zum Singen bringen konnte, wie von einer geheimnisvollen Macht hingezogen.
Thilo Bach vergaß, der er müde gewesen war und sich ausruhen wollte. Der unerwartete Besuch dieses Kindes machte ihn auf eine ihm selbst nicht begreifliche Weise glücklich. Er intonierte auf dem Klavier, das in dem Künstlerzimmer stand, eine einfache Weise.
Sibylle summte mit. »Das kenne ich«, flüsterte sie, als er die Hände von den Tasten nahm.
»Kannst du denn spielen?«
»Ja, ein bisschen.«
»Versuch’s mal.«
Sibylle setzte sich mit absoluter Selbstverständlichkeit auf den Schemel. Ihre kleinen Finger wiederholten mit unbeirrbarer Sicherheit, was Thilo Bach zuvor gespielt hatte. Es war ein kleines Stück von Beethoven.
»Du, das ist großartig«, lobte Thilo Bach seinen kleinen Gast. »Kannst du noch mehr?«
Sibylle spielte das Menuett von Mozart und danach einen Satz aus einem Stück von Haydn, das sie gerade mit Wolfgang Rennert einstudiert hatte.
»Wie alt bist du?«, wollte Thilo Bach wissen.
»Sieben, bald acht. Wenn ich größer bin, werde ich über mehr Tasten greifen und auch auf die Pedale treten können. Schade, dass es so lange dauert, bis man erwachsen ist.«
Thilo Bach legte die Hand auf die Schulter des kleinen Mädchens. »Das geht schnell genug. Mach nur so weiter. Du spielst gern, nicht wahr?«
»Ja. Ich sitze immer am Klavier, wenn ich mit den Schulaufgaben fertig bin. Manchmal spiele ich natürlich auch draußen mit den anderen Kindern – ich meine, Verstecken und solche Sachen.
Wir haben einen großen Park und einen Gutshof mit vielen Tieren.« Sibylle plauderte ganz unbefangen. Der berühmte Künstler kam ihr durchaus nicht fremd vor.
»Du wohnst also auf dem Lande?«
»Ja, in Sophienlust. Bei Tante Isi von Schoenecker. Ich durfte mit ins Konzert fahren, weil Tante Andrea bei ihrem kleinen Baby bleiben musste.«
Thilo Bach nickte, als wisse er genau, wer die Genannten seien. »Wie heißt du eigentlich?«, erkundigte er sich freundlich.
»Sibylle Germersheim.«
Der Künstler lauschte dem Klang des Namens nach. Hatte er ihn nicht schon einmal gehört? Nein, wohl nicht.
Er zog aus einem flachen Koffer, der auf dem Klavier gelegen hatte, eine Fotografie von sich und schrieb auf die Rückseite:
Für Sibylle von Thilo Bach, zur Erinnerung.
»Danke«, flüsterte Sibylle andächtig. »Ich werde mir einen Rahmen dazu kaufen und das Bild neben meinem Bett aufstellen. Wenn ich es anschaue, kann ich an das Konzert denken. Ich bin froh, dass es noch nicht zu Ende ist. Wird es lange dauern?«
»Noch zwei Stücke, Sibylle. Wenn die Menschen tüchtig Beifall klatschen, spiele ich sogar eine kleine Zugabe.«
»Es sollte nie aufhören«, seufzte Sibylle. »Wenn es so tönt und klingt, singt mein Herz mit.«
Thilo Bach zog sie unwillkürlich ein wenig an sich. »So ähnlich geht es mir auch, Sibylle. Musik ist etwas Wunderbares. Du scheinst einen guten Lehrer gefunden zu haben.«
»Ja, Herr Rennert. Er kann schön Klavier spielen. Aber nicht so wie Sie.«
Ein leises Klingelsignal ertönte. »Jetzt ist die Pause bald zu Ende«, erklärte der Pianist. »Du musst zu deinem Platz zurück. Sonst wirst du gesucht.«
»Ich sitze ganz vorn. Das finde ich leicht.« Sibyllchen wäre am liebsten noch länger bei Thilo Bach geblieben. Doch er führte sie zur Tür.
»Du musst gehen, Sibylle. Ich will an die Musik denken, die ich gleich spielen soll. Da kann ich dich nicht gebrauchen.«
Ein Mitglied des Orchesters führte Sibylle zurück in den Saal. Denise und Alexander hatten ihren kleinen Schützling schon vermisst. Sie waren höchst verwundert, als das Kind mit einem Künstlerfoto erschien, das die eigenhändige Widmung von Thilo Bach trug.
»Wie bist du zu ihm gekommen?«, fragte Denise und betrachtete die Aufnahme.
»Ich habe gesehen, dass er mit den anderen Musikern dort oben durch die Tür gegangen ist, Tante Isi. Er ist jetzt mein Freund. Weißt du, dass er mich schon vorher hier gesehen hatte?«
Sibyllchen hatte glänzende Augen und heiße Wangen. Sie berichtete, dass Thilo Bach ihr etwas auf dem Klavier vorgespielt hätte und dass auch sie ihm habe vorführen dürfen, was sie inzwischen gelernt hatte. Sie war aufgeregt und überglücklich.
Der Beginn des zweiten Teils des Konzerts versetzte die Zuhörer erneut in eine verzauberte Stimmung. Auch das Kind lauschte angespannt und ohne jedes Anzeichen von Ermüdung.
Zum Schluss klatschte Sibylle so laut, wie sie nur konnte. »Wenn wir genug klatschen«, rief sie den drei Erwachsenen zu, »spielt er mehr.«
Thilo Bach ließ sich die erste Zugabe abschmeicheln. Es folgte danach eine zweite. Als der tosende Beifall sich noch immer nicht legen wollte, setzte er sich unter dem Jubel des Publikums ein letztes Mal an den Flügel.
»Für Sibylle«, sagte er und nickte seiner kleinen Verehrerin zu.
Er spielte das Menuett von Mozart, das das Kind ihm in der Pause vorgetragen hatte. Sibylle wagte kaum zu atmen. Ihre Augen leuchteten, ihr Mund lächelte.
Zu allem Überfluss reichte Thilo Bach ihr von den vielen, vielen Blumen, die man ihm aufs Podium gebracht hatte, einen Rosenstrauß zu. »Für dich«, sagte er herzlich. »Denke manchmal an mich.«
Das Kind vermochte nicht zu antworten. Es wurde von der Last des gewaltigen Gebindes fast erdrückt. Denise trat hinzu und dankte dem Künstler mit ein paar freundlichen Worten.
Sibyllchen blieb wie festgebannt stehen, bis die Musiker endgültig gegangen waren. Dann erwachte sie wie aus einem Traum. Tränen rannen ihr über die Wangen. Es war zu viel für sie gewesen. Denise hob sie auf und legte sie ihrem Schwiegersohn in die Arme.
»Ich bin nicht traurig«, schluchzte Sibylle. »Warum ich weinen muss, weiß ich nicht.«
Dr. Hans-Joachim von Lehn trug sie ins Auto. Auf der langen Heimfahrt durch die warme Sommernacht schlief das Kind tief und fest, und in Sophienlust nahm