Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
ließ die Huber-Mutter nicht aus sich herauslocken. Nick konnte sich das Ganze nun auslegen, wie er wollte. Er verabschiedete sich ziemlich rasch von ihr und schwang sich draußen auf sein Rad, um den Brief so schnell wie möglich in den Kasten zu werfen.
*
Sie waren im Kutschwagen durch den Wiener Wald gefahren und verzehrten nun in einem Gartenrestaurant ihr sonntägliches Mittagsmahl. Ein Baum spendete Schatten. Vögel zwitscherten in den Zweigen. Es war eine Stunde der Erholung, wie Thilo Bach sie selten genug erlebte.
Bel kaufte eine Postkarte. »Du musst der Kleinen wenigstens ein paar Zeilen schicken, Thilo. Ich finde ihre Briefe reizend.«
Der Künstler warf eilig ein paar freundliche Worte auf die Karte, die seine Freundin an sich nahm, um sie später zu adressieren und abzuschicken.
»Ich werde Noten für sie aussuchen«, beschloss Thilo. »Du hast recht, sie hat eine Antwort verdient. Bestimmt macht ihr so ein Brief viel Mühe. Sie ist erst sieben.«
»Wenn du mir sagst, was du ihr schicken willst, besorge ich die Noten«, erbot sich Bel. »Hast du das Foto noch?«
Er nickte und griff in seine Brieftasche. »Hier. Es gefiel mir so gut, dass ich es eingesteckt habe. Es ist das Gegengeschenk für mein Bild. Sie hat auch eine Widmung darauf geschrieben. ›Für Thilo Bach von Sibylle Germersheim, als Andenken‹.« Er lächelte und reichte Bel die kleine Aufnahme.
»Ernst schaut sie aus«, stellte Bel fest. »Sie hat interessante Augen. Deine Augen sind ganz ähnlich. Wahrscheinlich habt ihr beide Musikeraugen.«
Thilo Bach lachte. »Es sollten wohl mehr die Ohren sein, in denen sich das ausdrückt. Du hast zu viel Phantasie, Bel. Aber es schmeichelt mir, dass dir meine Augen gefallen.« Er küsste ihre Hand und nahm das Bild wieder an sich.
»Wenn du meine Eltern besuchst, könntest du bequem einen Abstecher nach Sophienlust machen«, sagte die junge Frau. »Du bist ja eingeladen.«
»Leider werde ich keine Zeit dazu haben, Bel. Du kennst mein Programm genauso gut wie ich. Vielleicht später.«
Bel unterdrückte einen Seufzer. »Ja, Thilo, später.« Sie sah ihm in die Augen und lächelte.
Eine gute Stunde danach kehrten sie in die Stadt zurück. Sie mussten die Koffer packen, denn es sollte mit dem Schlafwagen in der Nacht nach Rom gehen.
Bel nahm wie gewohnt alles in ihre geschickten Hände. Sie notierte auch zwei Notenbände, hinterlegte das erforderliche Geld und beauftragte die Hotelsekretärin, die Sendung an Sibylle abzuschicken.
Als Bel in Thilos Hotelzimmer zurückkehrte, erschrak sie sehr. Ihr Freund sah aschfahl aus und stützte sich schwer atmend auf die Platte des Tisches, neben dem er stand.
»Was ist, Thilo?«, flüsterte Bel und eilte auf ihn zu. Sie sah winzige Schweißperlen auf seiner Stirn. Seine Lippen waren bläulich verfärbt.
»Mir ist schwindlig geworden. Es hat nichts zu bedeuten«, stieß er gepresst hervor und duldete, dass sie ihn zu seinem Sessel führte. Erschöpft ließ er den Kopf nach hinten auf die Lehne sinken. Das Atmen schien ihm schwerzufallen.
»Ich rufe einen Arzt«, beschloss Bel.
»Nein, das ist nicht nötig«, wehrte er sich mit matter Stimme. »Es ist gleich vorüber.«
»Du kannst so nicht reisen, Thilo. Ein Arzt weiß sicher, was dir jetzt hilft.«
Er wollte aufstehen, um ihr zu beweisen, dass es ihm wieder gutgehe. Doch die Beine versagten ihm den Dienst. Deshalb erhob er keinen Einspruch mehr, als Bel sich mit dem Hotelempfang verbinden ließ und darum bat, sofort einen Arzt zu Thilo Bach zu schicken.
Plötzlich schien die Zeit stillzustehen. Es war ganz still in dem großen eleganten Hotelzimmer.
Nach zwanzig Minuten klopfte es. Der Arzt war ein jovialer Wiener von strahlender Liebenswürdigkeit. Doch sein Gesicht wurde ernst, als er seinen prominenten Patienten untersuchte.
»Sie gehören ein paar Tage fest ins Bett, Meister«, erklärte er kategorisch. »Herz und Kreislauf sind betroffen. Damit spaßt man nicht. Anschließend müssen Sie sich gründlich ausruhen und erholen. Ich rate Ihnen, gleich ins Krankenhaus zu gehen, damit man Sie gründlich untersuchen kann. Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich eine Ambulanz und telefoniere mit dem Krankenhaus, damit dort alles zu Ihrem Empfang vorbereitet wird.«
»Ich muss nach Rom. Übermorgen Abend gebe ich dort ein Konzert. Dann folgt Madrid, Lissabon. Ich muss meine Zusage einhalten, Doktor.«
»Wenn Sie in Madrid oder Lissabon begraben sein möchten, dann reisen Sie nur«, äußerte der Doktor sarkastisch. »Man wird Ihnen im Krankenhaus bestätigen, dass Sie absolute Ruhe brauchen. Keine Konzertagentur der Welt kann von Ihnen verlangen, dass Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen.«
Thilo Bach sackte in seinem Sessel noch tiefer in sich zusammen. »So ernst sieht es aus?«, flüsterte er.
»Ja, leider, Meister. Aber wenn Sie sich in Behandlung begeben und sich Ruhe gönnen, kommt das in Ordnung. Sie haben sich ständig zu viel abverlangt. Ein Mensch ist keine Maschine. Und sogar eine Maschine muss hin und wieder überholt werden.«
Der Künstler fühlte sich so schwach, dass er sich fügte. »Bel, du musst sofort mit Michels telefonieren. Die restliche Sommertournee wird abgesagt. Ich habe keine Lust, mich in Lissabon begraben zu lassen. Michels muss das regeln. Ich bin für niemanden zu erreichen. Wenn möglich, soll die Öffentlichkeit nichts davon erfahren, dass ich schlappgemacht habe.«
»Ich kümmere mich um alles, Thilo. Mach dir keine Gedanken. Deine Gesundheit ist jetzt das einzig Wichtige.« Bels Stimme bebte. Sie zwang sich gewaltsam zur Ruhe, so schwer es ihr auch fiel.
Der Arzt bestellte einen Krankenwagen und erbot sich, den Patienten persönlich zu begleiten. Bel versprach, dass sie nachkommen werde, sobald sie die Weiterreise abgesagt und die sich daraus ergebenden Formalitäten eingeleitet habe.
Am späten Nachmittag, nachdem sie alles erledigt hatte, erschien Bel im Krankenhaus, wo sie Thilo leidlich vergnügt in einem der schönsten Zimmer des Instituts vorfand. Der Professor hatte seinen freien Sonntag mit größter Selbstverständlichkeit geopfert und den Künstler eingehend untersucht.
»Es sieht glücklicherweise nicht gar so schlimm aus«, sagte der weißhaarige erfahrene Internist, nachdem er Bel mit einem »Küss die Hand, Gnädigste« willkommen geheißen hatte. »Der Herr Kollege befürchtete einen Infarkt. Daran sind wir gerade noch vorbeigekommen. Trotzdem darf man eine solche Warnung der Natur nicht in den Wind schlagen. Zweimal geht es sicher nicht so glimpflich aus. Der Maestro hat sich freiwillig bereit erklärt, eine Woche bei uns zu bleiben, damit er den kleinen Kollaps ganz überwindet. Anschließend rate ich zu einem Erholungsaufenthalt. Es braucht nicht gerade ein Sanatorium zu sein. Wichtig sind Ruhe, gute Luft, ländliche Umgebung, keine Aufregungen, Klavierspielen höchstens zum eigenen Vergnügen ein Stündchen am Tag. In zwei Monaten darf er sein Publikum wieder beglücken. Früher auf keinen Fall. So leid es mir tut.«
Thilo nickte dazu. »Ich habe schon Ja und Amen gesagt, Bel. Du hattest recht mit deinen Warnungen. Diese Hetze macht den Stärksten kaputt. Jetzt kannst du dir ausdenken, wo wir Ferien machen.«
»Da brauche ich nicht lange zu überlegen«, sprudelte Bel freudig und erleichtert hervor. »Wir fahren zu meinen Eltern. Dort hast du Ruhe, Landluft, keinen Ärger, keine Hast. Ich kann mir keinen besseren Platz für eine Erholung auf dem Land denken.«
Thilo Bach zögerte unmerklich. Dann neigte er zustimmend den Kopf. »Frage bei deinen verehrten Eltern an, ob ich mich bei ihnen einladen darf, Bel.«
»Sie freuen sich. Bei uns ist das Haus im Sommer für gute Freunde immer offen. Wir werden faulenzen, spazierengehen, frische Milch trinken und glücklich sein.«
Der Professor stellte ein paar Fragen und erfuhr, dass Bels Eltern ein Landgut besaßen. »Genau das richtige«, meinte er wohlwollend. »Sie müssen nur versprechen, dass Sie sich dort ärztlich betreuen lassen und lange genug bleiben. Mit