Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
gebrauchen wussten.
»Bravo!«, rief er aus. »Mit euch macht es Spass. Habt ihr nicht einen Platz frei in Sophienlust?«
»Bei uns ist immer Platz«, erwiderte Nick sofort. »Wollen Sie bei uns bleiben?«
»Halt«, mischte sich Bel von Wettering ein. »Da habe ich ein Wörtchen mitzureden. Wenn es recht ist, werden wir gelegentlich wiederkommen. Aber wohnen musst du schon bei uns, Thilo.«
»Es war nur ein Scherz, Nick«, sagte Thilo Bach. »Sophienlust ist ein Kinderheim. Ich bin leider schon zu alt. Aber ich verspreche feierlich, dass ich die Verbindung mit Sophienlust und mit Sibyllchen aufrecht erhalten werde.« Er streckte die Hand aus, und Billchen sprang sofort auf, um sich an seine Seite zu schmiegen. »Dürfen wir Brüderschaft schließen, Frau von Schoenecker?«, fragte er.
»Wenn Sie Billchen das erlauben wollen, machen Sie ihr gewiss eine Freude.«
»Du kannst mich Thilo nennen«, erklärte Thilo. »Onkel, das gefällt mir nicht ganz. So alt bin ich noch nicht. Wir sind richtige Freunde.«
Sibylle schien vor Stolz über diese Auszeichnung ein bisschen gewachsen zu sein. Kerzengerade stand sie neben dem Künstler und schaute glückselig zu ihm auf.
Nun nahm das sorgsam geplante Programm wieder seinen Lauf. Die Kinder veranstalteten Geschicklichkeitsspiele im Park, bei denen es kleine Preise zu gewinnen gab. Thilo Bach und Bel übernahmen das Ehrenamt der Gewinnverteilung. Schwester Regine unterstützte sie dabei und sorgte unmerklich dafür, dass jedes Kind zu seinem Recht kam, denn die Kleinsten waren den älteren Kindern in manchem Wettbewerb noch nicht gewachsen.
Viel zu schnell verging der Nachmittag. Das Abendessen vereinte alle wieder im Speisesaal. Nur Andrea von Lehn war abgefahren, weil es höchste Zeit für Peterles Fläschchen wurde.
Erst zu später Stunde kam ein Gespräch im Biedermeierzimmer zustande, während Bel bereits auf die Uhr sah und an den Aufbruch erinnerte.
»Es ist mir ernst mit der Freundschaft zwischen Sibylle und mir, verehrte Frau von Schoenecker«, erklärte Thilo nachdrücklich. »Ich möchte den Kontakt mit diesem Kind nicht verlieren. Es ist nicht allein Billchens Talent, das mich dazu veranlasst. Ich habe die kleine Sibylle einfach liebgewonnen.«
»Billchen erwidert diese Zuneigung. Sie hat Ihr Bild neben ihrem Bett stehen und ist Ihnen mit ihrem ganzen kleinen Herzen zugetan.«
Bel griff verstohlen nach Thilos Hand. Sie war von dem Kind nicht weniger entzückt als er. »Steht sie allein? Hat sie Angehörige?«, erkundigte sie sich.
»Es gibt eine Tante. Sonst ist niemand da.«
»Ob sie damit einverstanden wäre, dass ich auf die spätere Entwicklung des Kindes Einfluss nehme?«, fragte der Künstler.
»Ich weiß es nicht«, gestand Denise mit einem unmerklichen Seufzer. »Bisher sah es so aus, als wollte diese Tante möglichst gar nicht behelligt sein. Vor ein paar Tagen kündigte sie jedoch ihren Besuch an. Man soll nichts überstürzen, Herr Bach. Möglicherweise lässt sich ein Gespräch mit Frau Germersheim arrangieren. Vorerst ist Billchen bei uns gut aufgehoben, und der Unterricht durch unseren Herrn Rennert reicht auch aus.«
»Ja, gewiss«, gab Thilo Bach etwas zerstreut zurück. Er schien über etwas nachzudenken, doch er äußerte sich nicht.
Die größeren Kinder warteten in der Halle und umringten die Gäste, als diese abfahren wollten. Sibyllchen hatte so lange gebettelt, bis man ihr erlaubt hatte, mit den Großen aufzubleiben. Sie sah ein bisschen übermüdet aus, doch ihre Augen glänzten vor Freude.
»Komm bald wieder, Thilo«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Wenn du mir antwortest, schreibe ich dir wieder einen Brief.«
»Ich will mich bessern, Sibylle«, versprach er feierlich.
Bel schloss Sibylle in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann stiegen die Gäste in den Wagen ein.
»Da scheint sich etwas anzubahnen«, raunte Alexander von Schoenecker Denise ins Ohr. »Ob die beiden heiraten und Sibylle zu sich nehmen wollen?«
Denise lehnte den Kopf gegen die Schulter ihres Mannes. »Ich weiß es nicht, Liebster. Sibylles Tante hat ihre Meinung geändert und möchte ihre Nichte zurückholen, sobald sie heiratet. Es ist schwer zu entscheiden, welche Lösung für das Kind besser wäre.«
»Verschieben wir die Entscheidung auf ein andermal, Isi. Wie oft haben wir schon erlebt, dass manches am Ende anders kommt, als wir dachten. Noch sind Frau von Wettering und Thilo Bach nicht verheiratet. Und wann Sibylles Tante in den Stand der Ehe treten will, ist uns ebenfalls nicht bekannt. Heute Nacht brauchst du dir deswegen keine Sorgen zu machen.«
*
Anita Germersheim und Frederik Mintow erschienen überraschend in Sophienlust. Frederik war von einer Reise zurückgekehrt und hatte Anita mit dem Plan der Fahrt nach Sophienlust geradezu überrumpelt.
Unterwegs kauften sie ein kleines Geschenk. Das geschah auf Frederiks Betreiben, denn er wollte mit Anitas Nichte gleich gute Freundschaft schließen, wie er sagte.
Obwohl die Ankunft eines Autos in Sophienlust selten unbemerkt blieb, war der Gutshof an diesem regnerischen Donnerstag wie ausgestorben. Dabei hätte Mintows auffälliges Wagenmodell sicherlich die Begeisterung der Jungen geweckt.
»Sieht ein bisschen verschlafen aus«, stellte Frederik fest. »Aber das Haus gefällt mir.«
»Ja«, erwiderte Anita. »Seltsam, dass niemand herauskommt.«
Es blieb ihnen dann nichts anders übrig, als zur Eingangstür zu gehen, die sie unverschlossen fanden. Unschlüssig schauten sie sich in der großen Eingangshalle um.
»Hallo«, rief Frederik schließlich laut. »Es ist Besuch da.«
Man hörte eine Tür gehen, dann näherten sich Schritte. Es war Frau Rennert, die im Büro über schriftlichen Arbeiten gesessen hatte.
»Guten Tag«, begrüßte sie die Ankömmlinge freundlich. Dann stellte sie sich vor und fragte nach dem Anliegen der Besucher.
»Ich bin die Tante von Sibylle Germersheim. Herr Mintow und ich möchten die Kleine besuchen.«
Frau Rennert räusperte sich, um ein bisschen Zeit zu gewinnen. Dass Sibylles Tante zu erwarten gewesen war, hatte sie gewusst. Auch die Probleme, die sich daraus eventuell ergeben konnten, waren ihr nicht fremd. Denn Denise von Schoenecker besprach alle diese Dinge vertrauensvoll mit ihr.
»Es ist schade, dass Sie uns nicht vorher benachrichtigt haben«, sagte sie freundlich. »Sibylle ist jetzt noch in der Schule. Der Bus kommt kurz nach ein Uhr. Frau von Schoenecker ist augenblicklich in Bachenau bei ihrer Tochter. Sie müssen also leider etwas Geduld aufbringen. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Sie sind gewiss schon lange unterwegs.«
»Wenn es keine Umstände macht, gern«, erwiderte Anita, angenehm berührt.
»Gar nicht. Ich rechne auch damit, dass Sie mit uns das Mittagessen einnehmen, Frau Germersheim. Für die Kinder ist es ein Ereignis, wenn wir Besuch haben, und Sie erleben gleich zwanglos mit, wie es in Sophienlust zugeht.«
Frau Rennert führte das Paar ins Biedermeierzimmer, dessen zeitlose Schönheit Anita entzückte. Frederik stand schweigend im Hintergrund. Erst als die Heimleiterin hinausgegangen war, um bei Magda in der Küche einen Imbiss zu bestellen, äußerte er, was er dachte: »Ich hatte mir das Heim anders vorgestellt, Schatz. Du brauchst wirklich kein schlechtes Gewissen zu haben. Hier müssen die Kinder wie kleine Prinzen und Prinzessinnen leben.«
Anita stimmte ihm zu. Da sie jedoch schon von Barbara erfahren hatte, dass Sophienlust ein ungewöhnliches Kinderheim war, war sie nicht so sehr erstaunt wie Frederik.
Ziemlich schnell wurde ein Tablett mit appetitlichen Brötchen und Obst gebracht. Auch hausgemachter Fruchtsaft war dabei. Frau Rennert berichtete, dass sie Frau von Schoenecker telefonisch erreicht habe. Nach dem Mittagessen werde sie da sein. Ob die Gäste bis dahin einen Rundgang unternehmen wollten?