Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Aber du musst mir nichts mitbringen, Tante Anita. Ich freue mich, wenn du mich besuchst.«
Anita war den Tränen nahe. Hastig zog sie ihre kleine Nichte an sich. »Freust du dich wirklich?«, flüsterte sie bewegt.
Billchen nickte. »Doch, es ist schön. Willst du hierbleiben? Tante Isi erlaubt es sicherlich.«
»Das wird nicht möglich sein, Billchen. Wir reden noch darüber. Ich werde dich mitnehmen in ein fremdes Land, in dem immer die Sonne scheint.«
»Aber ich kann jetzt nicht verreisen. Wir haben keine Ferien in der Schule. Ich muss sowieso in Sophienlust bleiben, weil Thilo mich bald wieder besucht. Er hat es mir versprochen.«
»Thilo? Wer ist das?«
»Mein Freund. Er ist erwachsen und spielt Klavier. Im Konzert vor vielen Leuten, die Beifall klatschen. Wenn sie genug klatschen, macht er am Schluss eine Zugabe.«
Anita legte die Hand auf des Kindes Schulter. »Wie heißt er mit vollem Namen – dein Freund?«
»Thilo Bach. Ich kann dir sein Bild zeigen. Es steht an meinem Bett. Er hat es mir geschenkt.«
»Thilo Bach«, wiederholte Anita mit zitternder Stimme.
»Kennst du ihn? Nick sagt, er ist ein berühmter Mann. Es steht oft etwas über ihn in der Zeitung.«
»Ja, er ist berühmt geworden, Sibylle«, erwiderte Anita tonlos. »Woher kennst du ihn?«
»Ich durfte mit ins Konzert, weil Tante Andrea bei ihrem Baby bleiben musste. In der Pause habe ich ihn besucht. Da hat er mir das Bild geschenkt. Später bekam ich noch Blumen. Letzten Samstag hat er mich hier besucht. Ich durfte ihm vorspielen. Danach hat er für uns ein Konzert gegeben. Er ist mein bester Freund.«
»Weißt du sonst etwas von ihm?«, fragte Anita leise.
»Er mag Kinder gut leiden. Wir haben ihm etwas vorgesungen. Eine Dame war bei ihm. Sie gefiel mir gut. Ich glaube, sie wird mal seine Frau.«
Der Gong, der zum Essen rief, erklang. Frau Rennert erschien persönlich im Biedermeierzimmer, um die Besucher in den Speisesaal zu geleiten. So erhielt Anita keine Gelegenheit, weitere Fragen an ihre Nichte zu richten. Auch Frederik, der sich über Anitas Verhalten gewundert hatte, musste sich gedulden.
Die Gäste fühlten sich inmitten der fröhlichen Kinderschar etwas fremd und befangen. Frederik ließ sich Magdas Rouladen allerdings trotzdem schmecken, während Anita nur wenig aß.
Erst nach der Mittagsmahlzeit erschien Denise von Schoenecker. Sie begrüßte Anita und Frederik herzlich. »Trinken wir eine Tasse Kaffee im Biedermeierzimmer«, schlug sie vor. »Sie haben sicherlich ein paar Fragen. Ich hoffe, Sie können ein bisschen bei uns bleiben.«
»Wir wollten heute Abend zurück«, erklärte Frederik. »So viel Zeit habe ich leider nicht.«
»Vielleicht fahre ich für ein paar Tage her, wenn du wieder verreisen musst, Frederik.«
»Gibt es für dich nicht viel zu erledigen? Später wirst du genug mit Sibylle beisammen sein.«
Denise führte die beiden ins Biedermeierzimmer. Sibylle wollte schnell ihre Schulaufgaben erledigen, um dann für ihre Tante frei zu sein.
»Es ist mir lieb, dass wir uns ungestört unterhalten können«, sagte Anita, sobald sich die Tür geschlossen hatte. »Sibylle hat mir vor dem Essen erzählt, dass sie mit dem Pianisten Thilo Bach befreundet sei. Er soll sogar hiergewesen sein.«
»Warum regt dich das auf?«, unterbrach Frederik sie ein wenig ungeduldig. »Lass der Kleinen doch den Spass. Sie träumt sicher davon, dass sie auch einmal berühmt wird.«
Anita zögerte eine Sekunde. Dann sah sie Denise fest an und sagte: »Ich fühle, dass ich Ihnen vertrauen darf, liebe Frau von Schoenecker. Bis jetzt habe ich über Billchens Vater geschwiegen. Es war das Geheimnis meiner armen Schwester. Niemand sollte es jemals erfahren. Thilo Bach ist Sibylles Vater. Doch er wird davon nichts ahnen. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht einmal an den Namen Germersheim. Es ist ja lange her. Für ihn ist das eine Ewigkeit. Er liebt und vergisst – und liebt und vergisst …«
Denise ergriff die Hand der eleganten jungen Frau, deren sich eine tiefe Erregung bemächtigt hatte. »Er weiß sicherlich nichts davon, liebe Frau Germersheim. Aber zwischen Sibylle und ihm besteht eine starke Zuneigung. Bisher haben wir das mit der musikalischen Begabung der beiden zu erklären versucht. Nun löst sich das Rätsel auf höchst wunderbare Weise. Vater und Tochter mussten sich wohl finden.«
»Sibylle soll es nicht erfahren. Auch er nicht. Er hat genug Leid in unsere Familie gebracht«, stieß Anita leidenschaftlich hervor. »Frederik Mintow und ich sind entschlossen, Sibylle zu adoptieren. Sie soll in einem glücklichen Elternhaus aufwachsen und nichts entbehren. Wir werden ins Ausland gehen. Das bedeutet zugleich eine Trennung von Thilo Bach. Sibylle darf ihn nicht wiedersehen.«
»Herr Bach verbringt zur Zeit unweit von hier einen längeren Urlaub. Es wird kaum möglich sein, ihn von weiteren Besuchen abzuhalten, sofern man ihm nicht die Wahrheit sagt«, gab Denise zu bedenken. »Sibylle hängt an ihm und erblickt in ihm ihr Vorbild. Es wäre für das Kind ein schmerzlicher Verlust, wenn es seinen Freund nicht mehr sehen dürfte.«
»Ja, ich verstehe. Er würde vielleicht sogar argwöhnisch werden und sich plötzlich an Carola erinnern. Wir müssen vorsichtig sein. Ich möchte Sibylle nicht weh tun.«
»Eine ziemlich verrückte Geschichte«, ließ sich Frederik vernehmen. »Ich meine, wir sollten vorsichtig sein und schweigen. Sonst fordert dieser Herr dir das Kind am Ende noch ab, Anita.«
Anita schüttelte den Kopf. »Das ist kaum möglich. Ich bin Anitas Vormund. Thilo Bach könnte nichts ausrichten.«
»So ein Star erreicht alles, was er sich in den Kopf setzt, Anita. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir eines Tages das Nachsehen.«
Denise sah ihn sehr aufmerksam an. »Liegt Ihnen so viel an Sibylle, Herr Mintow? Sie haben sie doch erst heute kennengelernt.«
»Meine Freundin spricht ständig von der Kleinen. Sie liebt sie wie ein eigenes Kind. Deshalb werden wir unter keinen Umständen auf Sibylle verzichten. Ich habe das Glück meiner zukünftigen Frau im Auge und selbstverständlich auch das Wohl des Kindes.«
»Ich verstehe«, erwiderte Denise leise. »Dann sind wir uns also einig, dass vorerst der Kontakt zwischen Sibylle und Herrn Bach bestehen bleiben darf?«
»Es wird sich nicht vermeiden lassen«, seufzte Anita. »Wohl ist mir dabei nicht. Wenn ich nicht mit dem Verkauf des Hauses und den übrigen Vorbereitungen so viel zu tun hätte, würde ich Sibylle einfach mitnehmen. Ich bin dankbar, dass wir uns nun gut verstehen.« Sie lächelte. »Eigentlich verdiene ich das nicht. Ich habe eine Menge versäumt an Sibylle. Trotzdem hat sie sich nicht vor mir zurückgezogen, sondern sich gefreut, dass ich gekommen bin. Sie ist das Kind meiner toten Schwester, und ich bin ihre nächste Verwandte. Wie konnte ich nur so dumm sein, mich zu schämen, weil sie ein Kind ohne Vater ist?«
»Kinder ohne Vater gibt es nicht«, spottete Frederik ein klein wenig unpassend. »Das hat sich bei deiner Nichte eben erst wieder erwiesen, Schatz.«
Anita warf ihm einen flehenden Blick zu. »Nicht, Frederik«, bat sie. »Ich kann das nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Anita.« Er legte den Arm um ihre Schultern und wollte sie trotz Denises Gegenwart küssen. Anita befreite sich mit einer raschen Bewegung.
Denise überbrückte die etwas peinliche Situation, indem sie von etwas anderem sprach.
Der weitere Verlauf dieses Besuches war dann auch nicht ganz schattenlos. Zwar führte Sibylle ihre Tante stolz überall herum, doch erwies es sich, dass das Kind sich gegen jeden freundschaftlichen Annäherungsversuch Frederiks sperrte. Je mehr er sich bemühte, desto stärker zeigte Billchen ihre Ablehnung.
Anita wurde dadurch in einen Konflikt gestürzt, von dem Billchen nichts ahnen konnte. In die tiefe dankbare Freude darüber, dass