Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Clemens. Du und Oliver, ihr seid mein ganzes Leben. Ist es denn wirklich so unverzeihlich, dass ich dir dieses Kind verschwiegen habe? Ich habe mir vormachen wollen, dass es überhaupt nicht existiert. Und ich habe es auch vergessen«, fuhr sie unter Tränen in ihrer Beichte fort. »Clemens, bitte, sieh mich nicht so zornig an. Wir sind doch glücklich.«
»Wir waren glücklich.«
»Warum waren, Clemens? Hat sich denn etwas in unserer Ehe geändert? Wärst du diesem Laboranten in deinem Werk nicht begegnet, hättest du nichts erfahren. Wir …«
»Hör’ auf, Gesa. Es hat doch keinen Sinn mehr. Ich weiß es nun mal und ziehe die Konsequenzen daraus.«
»Was soll das heißen?«, fragte sie hilflos und sah ihn fassungslos an.
»Das soll heißen, dass wir nicht mehr beisammenbleiben können.«
»Clemens, das ist doch unsinnig. Ich liebe dich doch. Und du? Du liebst mich doch auch? Oder waren all deine Liebesschwüre eine einzige Lüge?«
»Ich habe dich geliebt.« Clemens blieb allen Argumenten gegenüber unzugänglich. »Ich habe kein Vertrauen mehr zu dir. Eine Ehe ohne Vertrauen ist wie ein steuerloses Schiff, das hilflos dem Sturm preisgegeben ist.«
»Denkst du denn nicht an Oliver? Soll er denn zu den Kindern gehören, deren Eltern getrennt leben? Du weißt doch genau, dass solche Kinder kein glückliches Los haben. Mein kleiner Oliver soll aber eine glückliche Kindheit haben.«
»Ich denke sogar in erster Linie an Oliver. Er ist noch klein und wird dich vergessen. Denn in meinen Augen bist du eine Rabenmutter, weil du dich leichtfertig von deinem ersten Kind getrennt hast. Nach allem muss ich befürchten, dass du auch Oliver nicht liebst und ihn genauso im Stich lassen würdest, wenn du dir damit ein leichteres Leben verschaffen könntest.«
»Clemens, wie kannst du so etwas sagen?« Gesa war dem Zusammenbruch nahe. Es war ihr unbegreiflich, dass der Mann, den sie liebte und dem sie vertraut hatte, mit dem sie bisher so glücklich gewesen war, so unnachgiebig sein sollte.
»Ich gebe Oliver nicht her«, sagte sie fest. »Oliver ist mein Sohn.«
»Oliver bleibt bei mir. Dafür werde ich sorgen, Gesa.«
»Das kannst du mir doch nicht antun, Clemens.« Flehend hob sie ihm die Hände entgegen. »Clemens, du brichst mir damit das Herz. Du nimmst mir mein Leben.«
»Sei nicht so theatralisch. Du siehst gut aus und wirst dich bald mit einem anderen Mann trösten.«
Gesa hörte zu weinen auf. »Dann sage mir wenigstens, wo Oliver ist«, bat sie. Dabei faltete sie bittend ihre Hände.
»Ich denke nicht daran. Ich reiche schon morgen die Scheidung ein. Und ich werde alles, aber auch alles unternehmen, um zu erwirken, dass du kein Anrecht auf den Jungen hast. Ich will nicht, dass er in seelische Zwiespälte gestürzt wird. Er wird dich bald vergessen, Gesa. Ich bitte dich, mein Haus so bald wie möglich zu verlassen. Mehr haben wir uns nicht mehr zu sagen.«
In Gesa wurde alles starr. »Ich verlasse noch heute das Haus«, erwiderte sie tonlos. Sie erhob sich und taumelte wie eine Betrunkene aus dem Zimmer.
Aufstöhnend barg Clemens sein Gesicht in den Händen. In diesem Augenblick hasste er sich selbst wegen seiner Unnachgiebigkeit. Aber er brachte es nicht über sich, Gesa nachzulaufen und sie zu bitten, alles zu vergessen und bei ihm zu bleiben.
Dann hörte er Gesas leichten Schritt über sich im Schlafzimmer. Danach vernahm er das leise Schließen einer Tür, Schritte auf der Treppe und dann das Zuschnappen der Haustür. In diesem Augenblick erwachte er aus seiner Starre und sprang auf. Vom Fenster aus erblickte er die zierliche Gestalt seiner Frau. Wenig später hörte er das Aufheulen eines Motors.
Vorbei, dachte er. Es ist vorbei und überstanden. Oliver wird seine Mutter schnell vergessen. Viel schneller als ich. Ich werde sie ein ganzes Leben lang lieben und mich vor Sehnsucht nach ihr verzehren.
Clemens hatte das Gefühl, um Jahre älter geworden zu sein. Die Zukunft lag grau in grau vor ihm.
*
Oliver wurde von allen Kindern in Sophienlust geliebt und verwöhnt. Auch die Erwachsenen bemühten sich, dem Kleinen den Aufenthalt im Kinderheim so schön wie möglich zu gestalten.
Deutlich zeigte das Kind, wie gut es ihm in Sophienlust gefiel, aber die Sehnsucht nach seiner Mutti trat immer wieder in den Vordergrund. Oliver weinte zwar nur selten, wenn er von seiner Mutter sprach, aber aus jedem seiner Worte war die große Hoffnung, dass sie schon bald kommen würde, um ihn heimzuholen, herauszuhören.
Andrea von Lehn, die reizende junge Frau des beliebten Tierarztes, hatte den Kleinen tief in ihr Herz geschlossen. Auch Oliver hing bald abgöttisch an seiner neuen Tante Andrea. Wenn er in dem Landhaus am Rande von Bachenau übernachten durfte, war er überglücklich. Vor dem Schlafengehen durfte er dann mit Tante Andrea noch einmal zum Tierheim gehen. Onkel Koster, wie Oliver den Tierpfleger nennen durfte, machte dann mit ihnen seine letzte Runde im Tierheim. Und am Morgen durfte Oliver ihm beim Füttern der Tiere helfen. Das Liliputpferdchen Billy lief ihm bald wie ein Hündchen nach.
Am glücklichsten aber war Oliver, wenn er neben Tante Andrea in dem zweirädrigen Wagen, vor den Fridolin gespannt war, sitzen und den weichen Waldweg entlangfahren konnte. Laut bellend liefen die Dackel dann hinter ihnen her. Manchmal setzte sich Fridolin auch starrköpfig auf seine vier Buchstaben und wollte durchaus nicht mehr weiterlaufen. Dann lachten Tante Andrea und Oliver laut, weil Fridolin sich so komisch benahm.
Am Sonnabend kam dann Olivers Vater zu Besuch.
»Vati, wo ist Mutti?«, war die erste Frage des Jungen. »Warum ist sie nicht mitgekommen?«
»Sie ist noch krank«, erwiderte Clemens abweisend.
»Aber warum darf ich sie nicht besuchen? Alle Kinder dürfen ihre Mutti besuchen, wenn sie krank ist. Nur ich nicht.«
»Freust du dich denn nicht über meinen Besuch?« Clemens wusste, dass seine Frage kindisch war, aber er hatte sie ganz einfach nicht unterdrücken können.
»Doch, ich freue mich, Vati. Aber ich habe große Sehnsucht nach Mutti.« Olivers Lippen zuckten von verhaltenem Weinen.
Clemens blieb über Nacht in Sophienlust, um mehr Kontakt zu seinem Sohn zu bekommen. Obwohl ihm klar war, dass Oliver seine Mutter nicht so bald vergessen würde, hoffte er doch von ganzem Herzen, dass der Junge ihm nun auch jene Liebe entgegenbringen würde, die bisher Gesa gehört hatte.
Nach dem sonntäglichen Mittagessen verabschiedete sich Clemens von Denise mit den Worten: »Ich glaube, es wäre besser, wenn ich nicht so bald wiederkäme.«
Denise fiel es schwer, die richtige Antwort zu finden. Auch ihr war nicht entgangen, dass Oliver durch den Besuch seines Vaters verändert war.
»Nicht wahr, ich habe recht?«, fragte Clemens mit einem gequälten Lächeln, als Denise noch immer nicht antwortete. »Dabei hatte ich geglaubt, dass ein dreijähriger Junge schnell vergessen würde. Wie ich nun sehe, verstehe ich kaum etwas von der Psyche eines Kindes. Ich mag wohl tüchtig in meinem Beruf sein, aber sonst scheine ich auf der ganzen Linie ein Versager zu sein«, fügte er leicht ironisch hinzu.
»Bitte, Herr Dr. Wendt, so etwas sollen Sie nicht sagen. Wenn Ihre Frau wieder gesund ist, werden sich diese Probleme von selbst lösen.«
»Ich glaube, es ist nun an der Zeit, Ihnen die Wahrheit zu gestehen. Ich werde Oliver viel länger hierlassen müssen, als ich dachte. Ich lasse mich scheiden. Oliver soll bei mir bleiben. Damit er meine Frau schneller vergisst, möchte ich, dass er seine Mutter vorläufig nicht wiedersieht.«
»Also das ist es«, entfuhr es Denise. An Clemens’ verschlossenem Gesicht erkannte sie, dass er keine Lust hatte, noch mehr über die Tragik seiner Ehe zu erzählen. Sie bedauerte Oliver, der nun das Los vieler Kinder teilen musste, deren Eltern sich hatten scheiden lassen. Armer kleiner Junge, dachte sie mitfühlend.
Oliver gab seinem Vater beim Abschied einen schnellen Kuss und lief dann, ohne