Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
und schlug die Hände vor das Gesicht.
Plötzlich hatte sie eine Halluzination. Deutlich sah sie sich im Kreißsaal liegen. Sie dachte so intensiv an den Augenblick, als man ihr ihren erstgeborenen Sohn fortgenommen und aus dem Kreißsaal getragen hatte, dass sie laut aufstöhnte. Leichtfertig hatte sie sich von diesem Kind getrennt, weil sie sich nicht damit hatte belasten wollen. Clemens hatte in gewisser Weise recht. Damals war sie eine Rabenmutter gewesen. Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können, ihr Kind fortzugeben? Sie hatte es nicht einmal sehen wollen.
Nun hatte das Schicksal ihr die Rechnung quittiert. Es hatte ihr auch ihren zweiten Sohn genommen. Gesa schluchzte leise auf. Sie wählte dann wieder die Nummer der Grünwalder Villa. Denn sie wusste, dass Clemens um diese Zeit in seinem Werk war.
Aber wieder konnte Marianne ihr nicht die Adresse des Kinderheims nennen, in dem Clemens den Jungen untergebracht hatte.
An die schlaflosen Nächte hatte Gesa sich bereits gewöhnt. Aber sie wollte ein einziges Mal wieder durchschlafen. Darum nahm sie an diesem Abend zwei Schlaftabletten. Einen winzigen Augenblick war sie versucht, alle achtzehn Tabletten auf einmal einzunehmen, um …
»Nicht weiterdenken«, flüsterte sie. »Oliver braucht mich. Clemens wird mir eines Tages verzeihen. Er muss mir verzeihen, sonst werde ich noch wahnsinnig.«
*
Gesa schlief wirklich bis zum späten Vormittag durch. Obwohl sie beim Erwachen ein wenig benommen war, fühlte sie sich viel besser als in den vorangegangenen Tagen. Nach der lauwarmen Dusche war sie wieder ganz klar im Kopf. Sie zog sich sorgfältig an und verließ die Pension.
Es war ein warmer Sommertag. Föhnwölkchen flogen über den sanftblauen Himmel, als Gesa durch die Isaranlagen ging. Bei jedem kleinen Jungen, den sie unterwegs erblickte, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.
Mittags aß Gesa zum ersten Mal seit Tagen in einem Restaurant eine Kleinigkeit. Danach fuhr sie mit ihrem Auto nach Grünwald hinaus. In dem kleinen Café unweit der Villa wartete sie auf die Heimkehr ihres Mannes.
Gesa hatte Glück. Als sie gegen sechs Uhr das Café verließ und zu Fuß zu der Villa ging, sah sie schon von Weitem, dass die Parterrefenster alle erleuchtet waren. Das bedeutete, dass Clemens daheim war.
Mit ihrem Schlüssel schloss Gesa das Gartentor auf. Ganz seltsam wurde ihr zumute, als sie den Kiesweg zwischen den Blumenbeeten entlangging. Fast kam sie sich wie ein Eindringling vor.
Gesa ging um das Haus herum. Sie sah, dass die Terrasse ebenfalls erleuchtet war, dass die Terrassentür weit offen stand.
Gesas Herz klopfte zum Zerspringen, als sie sich wie eine Einbrecherin die wenigen Stufen zur Terrasse hinaufschlich. Als sie Stimmen im Haus hörte, hielt sie den Atem an. Die weibliche Stimme gehört aber nicht Marianne, sondern Clemens’ Sekretärin Renate Vogt.
Warum hat Clemens die Sekretärin mit nach Hause genommen?, überlegte Gesa. Um ihr Briefe zu diktieren? Früher hatte er das am Abend manchmal getan. Deshalb lag diese Möglichkeit nahe. Trotzdem spürte Gesa einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust bei dem Gedanken, dass die aparte Chefsekretärin des Wendt-Werkes den Abend mit Clemens verbrachte.
Bis zu diesem Augenblick war Gesa noch nie auf die junge Frau eifersüchtig gewesen. Nun aber überlegte sie, ob Clemens nicht seit langem ein Verhältnis mit Renate Vogt habe. Die Sekretärin hatte ihn oft auf seinen Geschäftsreisen begleitet. Aber Gesa war seiner Liebe stets so sicher gewesen, dass sie niemals auf den Gedanken gekommen war, er könnte sie betrügen. Doch jetzt fragte sie sich, ob Clemens vielleicht nur eine Gelegenheit gesucht hatte, frei zu sein für Renate Vogt.
Gesa sank in einen der Korbsessel, der unter ihrem Gewicht leise knarrte. Aber das war ihr egal. Sollte Clemens doch auf sie aufmerksam werden. Sie wünschte sich das jetzt geradezu.
Ganz deutlich hörte sie wieder seine Stimme. Dann erschien er unter der Terrassentür. »Ist hier jemand?«, fragte er. Dann erblickte er sie.
»Du?«, fragte er fassungslos. »Wie kommst du hierher?«
»Mit dem Auto. Ich muss dich noch einmal sprechen. Oder störe ich dich?« Diese Frage konnte Gesa sich nicht verkneifen. »Nicht wahr, Fräulein Vogt ist bei dir?«
»Ich diktiere ihr einige Briefe. Also, was willst du noch von mir?« Clemens war froh, dass Gesa nicht seine Gedanken lesen konnte. Er liebte sie wider alle Vernunft noch immer mit verzehrender Leidenschaft, so dass er Mühe hatte, sie nicht einfach in die Arme zu nehmen und zu küssen. Nur um nicht allein zu sein, hatte er Fräulein Vogt zu sich eingeladen unter dem Vorwand, ihr einige wichtige Briefe diktieren zu müssen. Dass sie seine Einladung mit Freuden angenommen hatte, deutete darauf hin, dass sie sich bei ihm eine Chance ausrechnete. Fast war er auch dazu bereit gewesen, sie über Nacht bei sich zu behalten. Nun aber konnte er das nicht mehr. Gesas Nähe, ihr reizender Anblick machte es ihm unmöglich, auch nur einen Gedanken an eine andere Frau zu verschwenden, geschweige denn sie in die Arme zu nehmen.
Um nichts von seinen Gefühlen zu verraten, fragte er ungeduldig: »Was ist los? Ich habe dir doch deutlich erklärt, dass es zwischen uns nichts mehr zu besprechen gibt.«
Nervös suchte er in seinen Taschen nach Zigaretten. Als er die Schachtel fand, bot er auch ihr eine Zigarette an.
»Danke«, sagte Gesa leise. Als er ihr Feuer gab, bemerkte sie das kaum merkliche Zittern seiner Hand. »Clemens, bitte, verzeih mir«, bat sie tonlos.
»Niemals!« Er wich ihrem flehenden Blick aus. »Ich kann es nicht. Zwischen uns ist alles aus.«
»Wegen Renate Vogt?«, fragte sie schrill. »Nicht wahr, du hast mit ihr ein Verhältnis?« Resigniert ließ sie die Schultern sinken. Doch dann ging eine Wandlung mit ihr vor. Bisher hatte sie Clemens’ Angriff kampflos entgegengenommen, jetzt aber war sie entschlossen, um Oliver zu kämpfen und nicht in die Scheidung einzuwilligen.
»Bist du gekommen, um mir wegen Fräulein Vogt eine Szene zu machen?«, fragte er und erhob sich halb aus seinem Sessel.
»Das war nicht der Grund, Clemens.« Gesa nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. »Ich wollte dich um Olivers Adresse bitten und dir gleichzeitig sagen, dass ich nicht gewillt bin, auf ihn zu verzichten.« Ihre braunen Augen richteten sich fast feindselig auf ihn. »Ich lasse mich auch nicht scheiden.«
»So, du lässt dich nicht scheiden.« Auch in seinen Augen blitzte es auf.
»Ich lasse mich nicht scheiden«, wiederholte sie fest. »Wegen Oliver. Verlass dich darauf, dass ich ihn finden werde. Und wenn ich eine Detektei in Anspruch nehmen muss.«
»Herr Doktor, ich …«, unterbrach Renate Vogt die Auseinandersetzung von der Terrassentür her.
»Fräulein Vogt, ich komme gleich wieder.« Clemens sah die Sekretärin entschuldigend an. »In wenigen Minuten diktiere ich Ihnen weiter.«
»Gut, Herr Doktor. Ach, guten Abend, Frau Wendt«, begrüßte die ungefähr sechsundzwanzigjährige Sekretärin Gesa. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie hier sind«, fügte sie spöttisch hinzu.
»Guten Abend.« Gesa erwiderte ihren Blick abweisend. Dabei registrierte sie bei sich, dass Renate Vogt wieder einmal besonders hübsch aussah. Das schwarze Haar war aus ihrer hohen Stirn gekämmt und fiel ihr bis auf die Schultern. Sie trug einen weißen Hosenanzug, der ihren dunklen Typ noch mehr hervorhob. Sicherlich war ihr längst bekannt, dass Clemens dunkelhaarige Frauen bevorzugte.
»Gesa, du hast gehört, dass ich noch zu arbeiten habe.« Clemens erhob sich nun endgültig. »Ich werde alles tun, um zu verhüten, dass du Oliver bekommst«, fügte er hart hinzu.
»Das werden wir erst einmal sehen.« Gesa stand ebenfalls auf. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich mir noch einige Sachen hole? Als ich die Villa verließ, hatte ich kaum Zeit, richtig zu packen. Ist Marianne da?«
»Sie ist in der Küche.« Clemens ließ Gesa den Vortritt. Dann sagte er: »Mich entschuldigst du wohl?« Sein beißender Hohn brachte sie wieder den Tränen nahe, aber es gelang ihr, sie zurückzuhalten.
»Du