Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Rollstuhl fortbewegen. Erst wenn der Gips abgenommen worden ist, kannst du ihm deine Reitkünste vorführen.«
»Wie lange dauert es denn, bis der Arm und das Bein geheilt sind?«, fragte Heidi.
»Ich vermute, einige Wochen. So, nun kommt aber. Magda weiß schon Bescheid und hat inzwischen das Mittagessen für euch vier vorbereitet. Andrea, wir telefonieren nachher noch miteinander.«
»Fein, Mutti.« Andrea gab Denise einen Kuss. »Ich muss zu Hans-Joachim in die Praxis zurück. Wir haben im Augenblick einen Leoparden zu verarzten.«
»Das habe ich schon von den Kindern gehört. Also, bis dann.«
»Bis dann.« Andrea wartete noch, bis die Kinder und ihre Mutter abgefahren waren, dann kehrte sie ins Haus zurück. Zuerst ging sie noch einmal schnell ins Kinderzimmer. Ihr kleiner Sohn hatte schon seine Flasche bekommen. Betti legte ihn gerade trocken. Die schwarze Dogge Severin lag neben der Wickelkommode und beobachtete Betti und das Baby interessiert.
»Ich gehe jetzt in die Praxis«, sagte Andrea. »Betti, die Kinder sind schon fort.«
»Dann bleiben sie nicht zum Essen da? Dabei habe ich einen Kartoffelauflauf gemacht, den sie sich so sehr gewünscht hatten.«
»Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als mehrere Tage Kartoffelauflauf zu essen«, scherzte Andrea. Dann gab sie ihrem Sohn einen Kuss. »Mami kommt bald wieder, mein Schatz. Sie muss jetzt Papi helfen. Aber das weißt du ja bereits, mein kluger kleiner Junge.«
Peterle strampelte vergnügt und lachte Andrea an. Dann griff er in ihr Haar und zog kräftig daran.
»Aua!«, rief Andrea gespielt empört. »Du entwickelst dich zu einem Grobian.«
Peterle krähte vor Begeisterung.
Lachend verließ Andrea das Kinderzimmer. Draußen wurde sie von ihren vier Dackeln laut bellend begrüßt. Die Hunde folgten ihr bis zu dem Behandlungszimmer und blieben dort mit gesträubten Rückenhaaren stehen.
»Ihr braucht euch nicht so aufzuregen«, sagte Andrea fröhlich. »Der Leopard Ali tut euch nichts. Sein Herr hat erzählt, dass er zusammen mit vielen Hunden aufgewachsen ist und sich als ihresgleichen fühlt.«
Die Dackel schienen diesen Worten jedoch nicht zu glauben. Als ihr Frauchen die Tür öffnete und der Geruch des Raubtieres empfindlich in ihre Nasen stieg, zogen sie die Schwänze ein und flitzten davon.
»Gut, dass du endlich wieder da bist, Andrea. Ich habe dem Leoparden schon eine Betäubungsspritze gegeben. Herr Koster wird mir auch helfen«, fügte Hans-Joachim nach einem Blick auf den Tierpfleger hinzu. »Warum ist Mutti noch einmal zurückgekommen?«
Andrea erzählte es ihm.
»Ich habe von dem Autounfall gehört, Andrea, und auch, dass es Tote gegeben haben soll. Wie traurig für den Jungen. Wie alt ist er?«
»Das weiß ich nicht, Mutti hat sich nicht über sein Alter geäußert. Wahrscheinlich ist er noch klein.« Andrea zog sich ihren weißen Kittel an, um dann ihrem Mann bei der kleinen Operation zu helfen.
Der Tierpfleger Helmut Koster war den beiden eine große Hilfe. Es war nicht zum ersten Mal, dass er bei einer Operation assistierte.
*
Obwohl Schwester Regine und die drei Kleinsten von Sophienlust sich bemühten, Andreas zum Essen zu bewegen, nahm er nur ein paar Bissen zu sich. Auch sprach er kaum ein Wort.
Oliver bewunderte im Stillen Andreas. Horst und Heidi hielten sich an Denises Bitte, keine Fragen zu stellen, nicht aber der kleine Junge. »Tut es sehr weh?«, fragte er und deutete auf den eingegipsten Arm und dann auf das eingegipste Bein.
Andreas sah ihn nur abweisend an. Aber Oliver ließ sich dadurch nicht einschüchtern. Die wuchtigen Gipsverbände hatten es ihm angetan. Beinahe beneidete er Andreas darum.
Am Spätnachmittag kehrten die übrigen Kinder mit den beiden großen Hunden von dem Tagesausflug zurück. Die Hündin Bella, die sich den ganzen Tag bei dem alten Justus in seiner Werkstätte aufgehalten hatte, kam ebenfalls angelaufen.
Heidi saß mit ihren Kaninchen auf der Wiese hinter dem Haus und zog einen Flunsch. Dass Andreas keinen einzigen Blick auf ihre Häschen geworfen hatte, war für sie eine große Beleidigung. Nun aber brachte sie ihre Lieblinge schnell in Justus’ Werkstätte zurück, um sie dort in ihren großen Hasenstall zu setzen.
»Pünktchen, wir haben einen neuen Jungen!«, rief Heidi ihrer älteren Freundin aufgeregt zu. »Er spricht kaum etwas und will auch nicht essen. Seine Eltern sind vor ein paar Tagen verunglückt. Er ist auch Waise, wie wir beide, wie Fabian, Angelika und Vicky. Tante Isi sagt, er wird für immer bei uns bleiben.«
»Wo ist er denn?«, fragte Pünktchen.
Heidi kam nicht mehr dazu, die Frage zu beantworten, weil Frau Rennert alle Kinder zu sich rief, um an sie die gleiche Bitte zu richten wie am Vormittag Denise an die Kleinen.
»Keine Sorge, Tante Ma, wir werden ihn nicht mit Fragen bedrängen«, erwiderte Nick. »Es wird sicher nicht lange dauern, bis Andreas wieder lacht. Erst einmal wollen wir ihn begrüßen.«
»Andreas wird von Schwester Regine durch den Park geschoben. Er kann ja nicht gehen. Also, dann kann ich mich auf euch verlassen.«
»Andreas hat zwei dicke Gipsverbände!«, rief Oliver.
»Aber er will nichts von meinen Kaninchen wissen. Er hat sie nicht einmal angesehen«, beklagte sich Heidi.
»Bald wird er für alles Interesse haben. Mit sechs Jahren weiß man schon viel. Vielleicht glaubt er auch, dass seine Eltern gar nicht tot sind«, meinte Nick und kam damit der Wahrheit sehr nahe.
Aber es sollte noch lange dauern, bis Andreas aus seiner Lethargie erwachte. Trotz aller Bemühungen der Kinder blieb er still und in sich gekehrt. Wenn Oliver ihn gar zu sehr mit Fragen bestürmte, fuhr er den Kleinen sogar grob an. Oliver nahm das jedoch nicht tragisch. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, Andreas aus der Reserve zu locken.
*
Gesa wohnte in einer kleinen Pension. Seit Tagen aß sie kaum etwas und rauchte viel zu viel. Noch immer konnte sie nicht fassen, dass sich ihr Leben von einem Tag auf den anderen so verändert hatte. Unfassbar war für sie auch, dass Clemens tatsächlich unerbittlich zu bleiben schien. Am meisten aber litt sie darunter, dass sie nichts von ihrem kleinen Oliver hörte, dass sie nicht einmal seinen Aufenthaltsort kannte.
Einige Male rief sie in der Grünwalder Villa an. Sie bat Marianne händeringend, ihr doch die Adresse des Kinderheims zu sagen. Doch jedes Mal bekam sie die gleiche Antwort: »Ich habe wirklich keine Ahnung, wo Oliver ist, gnädige Frau. Wüsste ich die Adresse des Kinderheimes, würde ich sie Ihnen gewiss verraten.«
»Das glaube ich Ihnen sogar, Marianne, nicht wahr, Sie kündigen nicht?«, bat Gesa leise. »Bleiben Sie bei meinem Mann. Ich bin ganz sicher, dass sich das Missverständnis zwischen uns aufklären wird.«
»Nur Ihretwegen verspreche ich Ihnen das, gnädige Frau.«
»Marianne, vielleicht finden Sie die Adresse des Kinderheims irgendwann auf dem Schreibtisch meines Mannes. Oder es kommt ein Brief, auf dem der Absender steht. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer.« Gesa nannte ihr die Pension und verabschiedete sich, nachdem Marianne ihr versprochen hatte, ihr zu helfen.
Gesa legte auf und blickte aus dem Fenster des unpersönlichen Zimmers der Fremdenpension. Sie hatte von dort einen Blick auf die Isaranlagen. Ihr Kummer wurde größer, als sie fröhliches Kinderlachen hörte. Hastig schloss sie die Fenster und zündete sich eine Zigarette an.
Schon sechs Tage hatte sie Oliver nicht mehr gesehen. Sechs lange Tage, die für sie eine Ewigkeit gewesen waren. Vielleicht hatte Clemens ihr nicht die Wahrheit gesagt, als er erklärt hatte, er habe Oliver in ein Kinderheim weit entfernt von München gebracht? Vielleicht war Oliver in einem Münchener Kinderheim?
Gesa lief von diesem Tag an von einem Kinderheim zum anderen. Aber überall sagte man ihr, dass Oliver nicht