Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Betty jemals von ihrer Tablettensucht geheilt werden? Neulich erst hatte er erfahren, dass die meisten Süchtigen nach einer gewissen Zeit wieder rückfällig wurden. Nur Menschen mit großer Energie schafften es, sich von dem Gift zu lösen. Aber Betty war alles andere als eine energische Frau. Sie war sehr labil und …
Ich darf nicht weitergrübeln, dachte er, sonst werde ich noch verrückt!
Enno dachte nun an Julia. Heute sollte sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Aber sie hatte ihn gebeten, sie nicht abzuholen.
Nichts zog Enno nach Essen, darum schlug er den Weg nach Sophienlust ein. Dort, im Kreis dieser glücklichen Kinder, würde er wieder zu sich selbst zurückfinden. Aber auch die Erwachsenen schienen einer anderen Welt anzugehören. Dieses Stückchen Erde, dessen ruhender Pol Sophienlust war, lag tatsächlich in einem Paradies.
Enno fuhr nun schneller. Als er endlich von der Autobahn abbiegen konnte und das Herrenhaus von Sophienlust unten im Tal zwischen den leuchtend grünen Bäumen erblickte, spürte er, wie die Ruhe in sein Herz einkehrte.
Er schaute auf seine Armbanduhr. Er würde gerade zum Nachmittagskaffee in dem Kinderheim eintreffen. Pieters Augen würden sicher vor Freude aufstrahlen. Es war egal, was Betty ihm angetan hatte und noch antun würde. Sie war die Mutter seines Sohnes, auf den er so unendlich stolz war. Als solche würde er seine Frau immer respektieren und es ihr bis an sein Lebensende danken, dass sie ihm einen Erben geschenkt hatte. Enno hatte richtig kalkuliert. Wenige Minuten vor seinem Eintreffen in Sophienlust gongte es in der Halle. Voller Freude stürmten die Kinder in den Speisesaal und setzten sich auf ihre Plätze. Schwester Regine und das Hausmädchen Ulla bedienten an diesem Nachmittag die Kinder. Sie schenkten den heißen Kakao in die hübschen Steinguttassen ein. Die beiden goldgelben Gugelhupfe waren schon aufgeschnitten, sodass die Kinder nur zuzugreifen brauchten.
Barri war es gelungen, sich in den Speisesaal einzuschleichen. Nun saß er mit erwartungsvollen Augen zwischen Pünktchen und der kleinen Heidi. Schwester Regine tat so, als sähe sie den Hund nicht. Denn der Bernhardiner fraß für sein Leben gern Magdas Gugelhupf.
Pieter schmunzelte vergnügt, als Heidi ihn unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß und stumm auf Barri deutete. Auch die anderen Kinder taten so, als bemerkten sie die Gegenwart des Hundes nicht.
Erst als Frau Rennert erschien, hielt es Barri für besser, unter den Tisch zu kriechen, wo er sich mucksmäuschenstill verhielt, woraufhin ein unterdrücktes Kichern zu hören war.
Nick und sein kleiner Bruder Henrik befanden sich auch unter der kleinen Schar. »Ich sehe was, was du nicht siehst!«, rief der Kleine vergnügt und blinzelte Frau Rennert an.
»Wirklich?«, fragte diese vergnügt. »Wollen wir wetten, dass ich es auch sehe?«
»Tante Ma, wer Lust zum Wetten hat, der hat auch Lust zum …«
»Hältst du wohl den Mund!«, unterbrach Nick seinen Bruder.
»Lass ihn nur, Nick«, meinte Frau Rennert lachend. »Kinder, wie wäre es mit einem kleinen Nachmittagsausflug zum Forsthaus?«
»Oh, das wäre toll. Wir werden Andi besuchen und seine Mutter, die liebe Tante Sabine!«, rief Heidi.
»Ja, und Herrn Bullinger. Er soll uns wieder eine Jägergeschichte erzählen«, erklärte Fabian lebhaft.
»Er erzählt immer so schön«, meinte ein größerer Junge begeistert. Er war erst seit ein paar Wochen hier, hatte aber schon zweimal den alten Oberförster Bullinger besucht, weil er später einmal Förster werden wollte.
»Das stimmt, Alfred«, gab Nick zu. »Aber meist ist es Jägerlatein.«
»Jägerlatein?«, fragte Dieter, ein zwölfjähriger Junge mit roten Haaren und lustigen braunen Augen. »Was ist denn das für eine Sprache?«
»Eine ganz fröhliche«, erwiderte Pünktchen schelmisch. »Weißt du, auch die Jäger haben eine lebhafte Fantasie und …«
»Ach so, sie erfinden Geschichten, die nicht wahr sind«, meinte Vicky.
»So ist es. Und die Fischer sind genauso wie sie. Auch sie sprechen so etwas Ähnliches wie Jägerlatein. Ich kenne eine Geschichte über zwei Fischer, die sich an einem Abend am Stammtisch treffen und entsetzlich angeben. Plötzlich sagt der eine: ›Weißt du, heute habe ich einen Hecht gefangen. Er wog hundertundzwanzig Pfund!‹
›Na, so was‹, erwiderte der andere, ›aber das ist gar nichts. Ich habe heute einen großen Kronleuchter aus dem See gezogen, an dem die Kerzen brannten.‹
›Du bist wohl nicht bei Trost!‹ rief der erste. ›So etwas gibt es doch nicht.‹
›Nun gut, vielleicht hast du sogar recht. Also, wenn du hundert Pfund von dem Gewicht des Hechtes abziehst, lösche ich die Lichter des Kronleuchters aus.‹«
Die Kinder brachen in fröhliches Lachen aus. »Ich kenne auch eine Geschichte‹, meldete sich Angelika. »Also …«
Aber sie kam nicht mehr zum Erzählen, denn Pieter sprang plötzlich mit einem hellen Jubelschrei auf und rief: »Vati! Mein Vati ist da! Mein lieber, lieber Vati!«
Nun richteten sich alle Augenpaare auf Enno Cornelius, der die Arme ausbreitete, als sein Sohn auf ihn zulief, und ihn dann einmal im Kreis herumwirbelte.
Enno verbrachte einen unbeschwerten Nachmittag in Sophienlust. Gegen Abend kamen Denise und Alexander von Schoenecker aus Schoeneich herüber und luden ihn ein, über Nacht dazubleiben.
Mit Freuden nahm Enno die Einladung an und auch die zum Abendessen bei den von Schoeneckers in Schoeneich. Doch vorher brachte er Pieter zu Bett.
Aber auch Heidi strahlte vor Seligkeit über ihr rundes Gesichtchen, denn Pieters lieber Vati deckte auch sie zu.
»Vati, erlaubst du, dass Heidi dich Onkel nennt?«, fragte Pieter leise.
»Natürlich darf sie das. Heidi, ich heiße Onkel Enno. Und später, wenn Pieter wieder daheim ist, wirst du uns oft besuchen. Willst du das?«
»Ja, Onkel Enno.« Heidi streckte ihm die Ärmchen entgegen. »Wenn ich auch keinen Vati mehr habe, habe ich nun doch noch einen lieben Onkel.«
»Dann hast du schon einige Onkel?« Liebevoll betrachtete er das kleine Mädchen. Zugleich regte sich in ihm der Wunsch, auch eine kleine Tochter zu haben. Doch das würde ein ewig unerfüllter Wunsch bleiben, dachte er. Denn Betty würde gewiss keine Kinder mehr bekommen.
»Ja, ich habe noch andere Onkel«, erwiderte Heidi und zählte sie nacheinander an ihren Fingern auf. »Onkel Alexander! Er ist Henriks Vati. Aber nur Pünktchen und ich nennen ihn so. Und Onkel Hans-Joachim! Das ist der liebe Tierdoktor. Und Onkel Helmut! Das ist der Tierpfleger. Und …«
»Vati, ich finde es sehr schön in Sophienlust«, unterbrach Pieter seine kleine Freundin rigoros. Schließlich war sein Vati nur selten bei ihm, und er hatte ihm noch so schrecklich viel zu sagen.
»Ich weiß, Pieter.«
»Aber manchmal fände ich es auch schön, wieder einmal zu Hause zu sein.«
»Das ist verständlich, mein Junge. An einem der nächsten Sonntage hole ich dich übers Wochenende heim.«
»Fein, Vati. Dann könnten wir Heidi eigentlich mitnehmen.«
»Wenn man es hier erlaubt, nehme ich sie gern mit.«
»Wirklich??« Heidi wurde ganz rot vor Freude.
»Vati?«
»Ja, mein Junge.«
»Wie geht es denn Mutti? Sind ihre Nerven schon besser geworden?«
»Ja, Pieter.«
»Und besucht mich die nette Dame aus deinem Büro auch einmal?«
»Du meinst Frau van Arx? Ja, Pieter. Ich werde ihr sagen, dass du dich über ihren Besuch freuen würdest.«
»Fein, Vati.« Pieter gähnte herzhaft. Heidi wurde sofort