Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
glücklich. Als er für einen Augenblick mit Julia allein war, sagte er etwas, was Julia heiße Tränen in die Augen trieb. »Warum ist meine Mutti nicht so lieb wie Sie, Frau van Arx?«
»Pieter …«
»Darf ich Sie Tante nennen?« Er ließ sie nicht aussprechen.
»Aber ja, Pieter. Sag nur Tante Julia zu mir.«
»Darf ich auch du sagen?«
»Aber ja, Pieter. Zu einer Tante muss man du sagen. Sonst ist es doch keine richtige Tante.«
»Ich bin so froh darüber«, gestand der kleine Kerl ernst.
Enno war glücklich, als er davon erfuhr. »Sie könnten leicht Pieters Mutter sein«, erklärte er unbefangen, ohne zu ahnen, was er damit anrichtete. »Pieter hat sogar ein wenig Ähnlichkeit mit Ihnen.«
»Finden Sie?« Am liebsten wäre sie davongelaufen, weil sie kaum noch die Tränen zurückhalten konnte.
»Ja, Julia, aber vielleicht finde ich das nur, weil ich Sie sehr gern habe. Viel zu gern.«
Julia war froh über das Erscheinen der Kinder, die sie plötzlich umringten und sie baten, mit zu den Koppeln zu kommen. »Pieter kann nämlich schon reiten«, flüsterte Henrik Enno schnell zu. »Aber es soll eine Überraschung werden. Pieter ist schon dort.«
Stolz saß der kleine Junge auf dem Pony Nicky, das schon sehr betagt war und viel von seinem früheren wilden Temperament eingebüßt hatte. Gemächlich trottete es mit seinem kleinen Reiter immer im Kreis herum. Pieters Wangen glühten vor Aufregung.
»Toll, mein Junge!«, rief Enno ihm zu. »Später, wenn du wieder zu Hause bist, kaufe ich dir ein Pony.«
»Wirklich, Vati?«, rief Pieter zurück. »Auch einen Hund? Einen Barri? Ja?«
»Wollen mal sehen«, meinte der Vater lachend und wandte sich an Julia. »So ist es nun mal mit Kindern. Kaum reicht man ihnen den kleinen Finger, wollen sie schon die ganze Hand einstecken. Aber ich bin froh, dass Pieter so geworden ist. Früher war er ein scheues und ungesund stilles Kind. Sophienlust hat wahre Wunder an ihm vollbracht. Auch sieht er jetzt viel gesünder aus.«
»Ja, Enno, das ist wahr. Ich kann mich noch entsinnen, wie blass er immer gewesen war, als er Sie im Werk besuchte.«
Pieter und die anderen Kinder bedauerten sehr, dass der nette Herr Cornelius und die liebe Frau van Arx schon am Spätnachmittag wieder abfahren mussten. Pieter weinte ein bisschen. Doch die Kinder trösteten ihn sofort.
Als Julia an diesem Abend Enno bat, doch noch auf einen kleinen Imbiss zu ihr zu kommen, sagte er mit Freuden zu.
»Ich fühle mich in Ihrem Appartement viel glücklicher als in meinem großen leeren Haus«, stellte er fest und setzte sich. Dabei fiel sein Blick wieder auf die Fotografie von Julias Mann. Und nun wusste er auch, an wen er ihn erinnerte. An Pieter.
Enno ließ seine Gedanken laut werden. »Aber das ist gar nicht so abwegig«, fügte er hinzu. »Ihr Mann war ein typischer Holländer, und Pieter geht ja ganz in die Familie meiner Frau. Auch mein Schwiegervater ist ein solcher Typ.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Julia leise. »Die Typen in Holland ähneln sich sehr.«
Von diesem Augenblick an fand sie keine Ruhe mehr. War es vielleicht nur das? fragte sie sich. Hatte sie sich in den Gedanken, dass Pieter ihr Sohn sei, so sehr hineingesteigert, dass sie nun fest davon überzeugt war? Deshalb musste sie unbedingt mit Betty Cornelius sprechen. Am nächsten Wochenende würde sie noch einmal zum Sanatorium fahren.
Als sich Julia und Enno an diesem Abend trennten, wussten sie auch ohne Worte von ihrer gegenseitigen Liebe. Von einer Liebe, die niemals Wirklichkeit werden durfte.
*
Enno flog am Ende der Woche nach New York. Vorher hatte er noch Betty besucht. Es war ein quälendes Beisammensein gewesen, sodass sie beide froh über den Abschied gewesen waren. Anfangs hatte er vorgehabt, Julia mit in die Vereinigten Staaten zu nehmen. Aber dann hatte er sich anders entschieden. Seine Gefühle für sie und das Verlangen, sie ganz zu besitzen, waren so stark in ihm, dass er sicher war, sich nicht beherrschen zu können. Aber er wollte Betty nicht betrügen, obwohl seine Liebe für sie erloschen war. Solange sich seine Frau in diesem erbarmungswürdigen Zustand befand, hatte er, so fand er, nicht das Recht, ihre Hilflosigkeit auszunutzen.
Ununterbrochen musste Enno auf dem Flug an Betty denken, an ihr seltsames Verhalten, ihre unverständlichen Bemerkungen. Es war, als ahnte er bereits, was ihn bei seiner Rückkehr erwarten würde.
Julia war mehr als erleichtert über Ennos Reise. So konnte sie ohne Sorge zu Betty Cornelius fahren. Bereits am Samstagmorgen setzte sie sich in ihren neuen Wagen und fuhr los.
Sehr langsam fuhr Julia die Auffahrt zum Sanatorium hinauf und parkte den Wagen auf dem runden Platz davor, wo schon eine Menge Autos standen.
Diesmal ließ sie sich nicht wieder fortschicken. Schließlich erlaubte man ihr auch, Betty zu besuchen.
»Ich habe Sie erwartet, Frau van Arx«, sagte Betty da zu Julias Überraschung.
»Aber … «
»Sie müssen wissen, dass vor kurzem Claus Aarhof bei mir war.«
»Der Arzt?«
»Ja, der Arzt, der Sie von Ihrem Sohn entbunden hat.«
»Mein Gott, dann wissen Sie …«
»Ja, ich weiß es. Nur ist mir nicht klar, wie Sie dahintergekommen sind.« Betty merkte in ihrem verworrenen Zustand nicht einmal, dass sie ein Geständnis ablegte, ohne gefragt zu werden. Auch schien sie vergessen zu haben, dass sie Claus gebeten hatte, mit niemandem darüber zu reden.
»Ich … Ein dummer Zufall brachte mich auf die Spur. Zuerst war es nur eine Ahnung, doch allmählich war ich wie besessen von dem Gedanken, dass mein Kind noch am Leben ist.« Julia zog das Corpus delicti aus ihrer Handtasche und legte es auf die Bettdecke.
»Ja, das Hemdchen«, sagte Betty. »Ich habe sogleich gesehen, dass es eine schlechte Handarbeit war. Aber Pieter trug das Hemdchen, als Claus mir das Kind brachte.«
»Ich habe es selbst angefertigt und meine schlechte Arbeit sogleich wiedererkannt«, erwiderte Julia.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Pieter Ihr Kind war. Ich dachte bis vor ein paar Tagen, es sei das Kind dieser Studentin. Claus hat auch mich hintergangen. Auch ich …«
Julia kam sich plötzlich völlig ausgebrannt vor. Nun, wo sie am Ziel angelangt war, blieb die erwartete Freude aus. Ihr Sohn lebte. Aber er wusste nicht, dass sie seine Mutter war. Er war bei anderen Leuten aufgewachsen. Er gehörte nicht ihr, sondern Enno und seiner Frau. Auf einmal fühlte Julia sich uralt.
»Werden Sie ihm den Jungen fortnehmen?«, fragte Betty und fasste sich an den Hals. »Ich bekomme keine Luft«, keuchte sie. »Ich habe keine Tabletten mehr. Aber ich brauche sie so sehr. Ich … Bitte, besorgen Sie mir die Tabletten. Ich kann nicht ohne sie leben.«
»Bitte, ich flehe Sie an, bringen Sie mir Tabletten. Ich …« Betty stieß die Bettdecke fort und stieg aus dem Bett. Sie wankte zur Kommode, durchwühlte die Schubladen. »Sie sind fort! Alle sind fort. Man hat sie mir fortgenommen. Sie wissen ja nicht, wie sehr sie mich damit treffen. Ich hasse sie alle hier. Ich …« Ihre Stimme war immer lauter geworden, ihre Beschimpfungen immer hemmungsloser.
Julia atmete auf, als eine Krankenschwester eintrat und ihr einen Wink gab, das Zimmer zu verlassen. Völlig benommen verließ sie das Sanatorium. Sie stieg in ihren Wagen ein und fuhr los. Ein ganzes Wochenende lag vor ihr. Warum sollte sie es nicht in Sophienlust verbringen? Frau von Schoenecker hatte sie doch so herzlich eingeladen, bald wiederzukommen.
Und diesmal würde sie Pieter mit einem ganz anderen Gefühl gegenübertreten. Nun wusste sie, dass es ihr Sohn war. Aber würde sie die Kraft aufbringen, Enno die Wahrheit zu sagen? Nein, niemals. Er brauchte das Kind. Pieter schien sein einziger Halt zu sein, der Sinn seines Lebens. Nur für ihn baute er sein Werk