Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg


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ganz im Hintergrund. Still erledigte sie ihre Arbeit. Sie übernahm alle wichtigen Anrufe und sagte auch einige Termine ab, um Enno zu entlasten.

      Als man Betty Cornelius zu Grabe trug, war der Himmel wolkenverhangen. Während der Pfarrer die Grabrede hielt, erlebte Enno noch einmal sein Leben mit Betty. Und sonderbarerweise schoben sich jetzt nur die schönen Tage mit ihr in den Vordergrund. Die bösen Stunden erloschen in seinem Gedächtnis. Und als sich Pieters Hand in die seine stahl, hielt er ein stilles Zwiegespräch mit der Toten und dankte ihr noch einmal für den Prachtjungen.

      »Ich habe Mutti doch liebgehabt«, flüsterte Pieter. Seine Lippen zuckten. Die ersten Tränen lösten sich nun von seinen blonden Wimpern.

      »Ich auch, mein Junge.« Enno drückte die warme Kinderhand zärtlich. »Wir werden sie immer in guter Erinnerung behalten.«

      »Ja, Vati, das wollen wir.«

      Enno kümmerte sich nun um seine Schwiegermutter, die laut schluchzte. Auch sein Schwiegervater wischte sich immer wieder mit dem Taschentuch über die Augen.

      Julia stand etwas abseits. So bemerkte sie als einzige den mageren Mann mit der von Sonne und Wind gegerbten Haut, der halb verborgen hinter dem Stamm einer Buche stand. Sein schmerzerstarrtes Gesicht gab ihr zu denken. Fast gewann sie den Eindruck, dass er Betty Cornelius geliebt hatte. Und dann erkannte sie ihn. Dr. Claus Aarhof, der Arzt, der ihr das Kind genommen und sie somit um das Schönste auf der Welt gebracht hatte: um das Mutterglück.

      Als sie sich wieder verstohlen umwandte, war der Arzt verschwunden.

      *

      Viele Wochen später fuhren Enno und Julia nach Sophienlust, um Pieter endgültig heimzuholen. Weihnachten stand vor der Tür. Pieters größter Wunsch war ein Hund und dass Heidi die Weihnachtszeit mit ihm zusammen in der großen Villa in Essen verbringen dürfe.

      Enno hatte sich entschlossen, seinem Liebling beide Wünsche zu erfüllen. Den jungen Bernhardiner hatte er schon gekauft. Aber noch war er zu klein, um seine Mutter verlassen zu können. Doch in zwei Wochen durfte er ihn abholen. Und genau in zwei Wochen war Heiliger Abend.

      Julia konnte immer wieder beobachten, wie sehr Enno an seinem Sohn hing, wie hell es in seinen Augen aufleuchtete, wenn er von dem Kind sprach.

      Durfte sie ihm da die Wahrheit sagen?

      Enno war nicht irgendein Mann, den sie vor einem neuen Schicksalsschlag behüten wollte, sondern er war der Mann, den sie liebte.

      In den Wochen nach Bettys Tod hatte er sich immer mehr an sie geklammert, und sie, sobald es um den Jungen ging, um Rat gefragt. Was sollte sie nur tun? Sollte sie weiter schweigen? Oder sollte sie sprechen?

      Julia blickte ihn an. Sein markantes Profil zeichnete sich silhouettenhaft gegen das Autofenster ab. Ich muss es ihm sagen, dachte sie und gab sich einen inneren Ruck. »Enno, können wir nicht irgendwo Rast machen?«, fragte sie.

      »Hast du Hunger?«

      »Ja, ich habe Hunger«, erwiderte sie, obwohl ihr Magen wie zugeschnürt war. Aber sie wollte es ihm nun doch sagen. Irgendwo in einem abseits gelegenen Gasthaus. Er liebte sie doch. Was für einen Unterschied machte es schon, wenn er erfuhr, dass Pieter ihr Kind war? War der Junge dann nicht auch sein Kind?

      Enno fuhr bei der nächsten Ausfahrt von der Autobahn herunter. Nach wenigen Kilometern erreichten sie ein kleines Dorf, das auch einen Gasthof hatte. Es roch nach Kuhmist und Schweinebraten, als sie auf den Eingang zugingen und dann die Gaststube betraten.

      Sie waren die einzigen Gäste. Sofort kam der Wirt auf sie zugesteuert und nahm die Bestellung auf. Dann waren Julia und Enno allein.

      »Ich bin sehr froh, dich zu haben« sagte er und legte seine Hand auf ihre eiskalte Rechte. »Frierst du denn?«, fragte er besorgt und blickte in das geliebte Gesicht.

      »Ja, Enno, mir ist kalt.« Julia zögerte noch. Dann aber sagte sie: »Enno weißt du, dass auch ich einem Kind das Leben geschenkt habe?«

      »Nein, das wusste ich nicht. Du hast niemals darüber gesprochen. Was musst du durchgemacht haben, als es starb«, fügte er leiser hinzu. »Es tut mir so leid.«

      Julia fasste sich ein Herz und erwiderte fest: »Enno, mein Kind lebt.«

      Enno zog seine Hand zurück und sah sie erstaunt an. »Aber das verstehe ich nicht. Du liebst doch Kinder. Warum hast du das Kind vor mir verschwiegen? Ist es ein außereheliches Kind?«

      »Nein, Enno, es ist Wims Sohn.«

      »Umso weniger verstehe ich dich, Julia.« So etwas wie Enttäuschung verdunkelte seine Züge. »Du hättest den Jungen doch bei dir haben können. Er muss doch im gleichen Alter wie Pieter sein.«

      »Ja, Enno, ich hätte meinen Sohn bei mir haben können. Aber bis vor einigen Wochen wusste ich nicht einmal, dass er lebt. Und dann, als ich es erfuhr, sah es so aus, als ob er für immer für mich verloren sein würde.« Tränen glitzerten plötzlich in ihren Augen.

      »Du sprichst in Rätseln, Julia.«

      »Enno, ich bin jetzt auf dem Weg, mein Kind zu besuchen.«

      »Ist es denn auch in Sophienlust untergebracht?«

      »Ja, Enno, es ist in Sophienlust untergebracht.« Sie sah ihn unverwandt an. »Enno, vielleicht muss ich dir sehr weh tun mit dem, was ich jetzt sagen muss. Ich habe lange hin und her über legt, ob ich es tun soll. Nun bin ich zu dem Entschluss gekommen, dir die volle Wahrheit zu sagen.«

      Nervös zündete er sich eine Zigarette an. »Spann mich bitte nicht auf die Folter«, bat er leicht gereizt.

      »Pieter ist mein Sohn, Enno.« So, nun war es heraus, nun gab es kein Zurück mehr. Nun muss das Schicksal seinen Lauf nehmen, dachte sie und erschrak zugleich über Ennos fahle Blässe. Fassunglos starrte er sie an, so, als zweifle er an ihrem Verstand.

      »Das glaube ich nicht, Julia. Was ist los mit dir? Warum erzählst du mir eine solche Lüge?« Er sprang auf und stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte. »Nein, ich glaube das nicht.«

      »Bitte, Enno, setz dich wieder«, flehte sie ihn an. »Ich will dir den Jungen doch nicht fortnehmen. Aber ich lüge nicht. Bitte, bitte, höre mich zu Ende an. Wenn du willst, gehe ich dann still aus deinem und Pieters Leben.« Nun liefen ihr die Tränen über die Wangen.

      Enno setzte sich widerstrebend. Alles in ihm wehrte sich gegen diese neue Hiobsbotschaft. Er war doch so stolz gewesen, einen Sohn zu haben, ein Kind von seinem eigenen Fleisch und Blut …

      Julia begann nun zu sprechen. Leise erzählte sie ihm alles Wissenswerte. Sie versuchte Betty zu schonen. Sie sagte, dass Betty nur aus Liebe zu ihm und weil sie ihn nicht habe verlieren wollen, sich zu dieser großen Lüge habe hinreißen lassen.

      Das Essen, das der Wirt brachte, blieb unberührt.

      »Julia, das ist ja entsetzlich. Das ist …« Nur mit Mühe unterdrückte Enno ein Aufstöhnen. »Und ich habe all die Jahre in Pieter meinen Sohn gesehen. Meinen und Bettys Sohn.«

      »Du liebst Pieter doch?«

      »Gott ist mein Zeuge, dass ich ihn liebe. Auch jetzt noch liebe. So liebe, dass ich ihn um nichts auf der Welt hergeben möchte. Er bleibt mein Kind.« Er sah sie an. »Und er ist auch dein Kind, Julia. Unser Kind«, fügte er hinzu und umfasste ihre noch immer eiskalten Hände. »Julia, eines ist mir unbegreiflich …«

      »Ja?«, fragte sie mit ersterbender Stimme, denn ihr Herz raste wie verrückt. Sie fühlte sich todelend.

      »Dass du Betty noch in Schutz nimmst. Sie hat dir dein Kind genommen.«

      »Enno, nicht sie trifft die Schuld, sondern den Arzt. Sie hat doch geglaubt, Pieter sei das Kind der Studentin. Nein, ich kann sie nicht hassen.«

      »Julia, du bist ja kreideweiß!«, rief er plötzlich. »Einen Cognac!«

      Der Wirt brachte sofort das gewünschte Getränk. Julia trank und fühlte sich etwas besser. »Ich weiß gar nicht, was mit mir ist«,


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