Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Arme.
Es dauerte lange, bis Nick ruhiger wurde. »Nicht wahr, Mutti, du sagst keinem, dass ich plötzlich wie ein kleines Kind weinen musste«, bat er später. »Auch Vati soll es nicht wissen.«
»Ich verspreche es dir, mein Junge. Aber du brauchst dich deiner Tränen nicht zu schämen. Auch Männer weinen noch. Ich bin gleich wieder da«, sagte sie leise.
Nick lag in seinem Bett und blickte zur Decke empor, auf der nun die grausigen Bilder wieder lebendig wurden. Er schlug die Hände vor die Augen, aber die Bilder blieben. Sie schienen sich mehr und mehr in seinem Kopf auszubreiten. Verzweifelt warf er sich hin und her und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen.
»So, Nick, das wird dir guttun«, sagte Denise zärtlich und strich ihm über das schwarze Haar. »Da, nimm die beiden Tabletten. Danach wirst du wie ein Murmeltier schlafen.«
»Danke, Mutti.« Nick setzte sich auf. »Ich könnte sonst bestimmt nicht schlafen.« Er nahm die Tabletten ein. Dann fuhr er fort: »Aber ich habe helfen können. Ich wünsche mir nur noch, dass alle Verletzten durchkommen.«
»Das hoffe ich auch, Nick. Soll ich noch bei dir bleiben?«
»Das wäre nett, Mutti. Wo ist Henrik?«
»Er schläft bei Heidi im Zimmer. Auf diese Weise kann er mal eine Nacht in Sophienlust übernachten.«
»Mutti, ich …« Nick konnte nicht weitersprechen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass seine Zunge ihm nicht mehr gehorchte. Er spürte noch, dass sich seine inneren Verkrampfungen lösten. Dann war er fest eingeschlafen.
Denises Lächeln verschwand, als sie das Licht ausknipste. Sie fühlte sich plötzlich so erschöpft, wie eine uralte Frau. Als sie die Treppe hinuntertapste, kam ihr Alexander entgegen. »Es ist höchste Zeit für dich, ins Bett zu gehen«, erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Denise fügte sich seinen Worten nur zu gern. Wie in Trance verabschiedete sie sich von den Sophienlustern.
Renate Hagen war ebenfalls am Ende ihrer Kräfte. Wie ein kleines Kind ließ sie sich von Schwester Regine zu Bett bringen und schluckte gehorsam eine Schlaftablette. Als sie dann alleine war, tat sie etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sie faltete die Hände und betete. Inständigst flehte sie Gott an, alle Verletzten durchkommen zu lassen.
*
Daisy war ein Kind, das selten weinte. Aber als sie jetzt durch die Wiesen heimwärts wanderte, stolperte sie mehrmals, weil ihr die Tränen immer wieder in die Augen schossen. Zum erstenmal hatte ihre Mutter ihren Daddy, Jeremy und sie allein gelassen.
Daisy wusste, ihr Daddy war auch traurig. Aber er hatte gesagt, dass ihre Mummy einmal Ferien machen müsse. »Du bist doch mit deinen acht Jahren schon ein großes Mädchen und kannst mir im Haushalt helfen«, hatte er gemeint.
Damit hatte er natürlich recht, überlegte Daisy und wischte ihre Tränen fort. Aber das Haus war ohne Mummy doch sehr leer.
Wieder schossen Daisy Tränen in die Augen. Als sie aber das große Hoftor erreicht hatte, versiegten ihre Tränen schnell. Nun konnte sie sogar wieder lächeln. Mit einer anmutigen Bewegung warf sie den Kopf zurück, sodass ihr langes blondes Haar, das über der Stirn zu einer Ponyfrisur geschnitten war, nach hinten flog.
Der Irish-Terrier Tommy erhob sich von seinem Sonnenplatz neben der Haustür und kam Daisy entgegengelaufen. Voller Freude begrüßte er sie.
»Daisy, endlich bist du da!«, rief Jeremy, ein dunkelhaariger vierjähriger Junge mit großen braunen Augen und lebhaftem Naturell. »Daddy hat schon mehrere Male nach dir gefragt. Du sollst ihm doch in der Küche helfen. Morgen wird dann die alte Barbara zu uns kommen und für uns kochen. Dann braucht Daddy keine Küchenarbeiten mehr zu machen. Sag, Daisy, sind vier Wochen eine lange Zeit? Ich meine, weil doch unsere Mummy so lange fortbleiben will.«
»Vier Wochen sind sehr lang, Jeremy.« Tapfer schluckte das Mädchen seine Tränen hinunter. Schließlich musste es dem kleinen Bruder doch mit gutem Beispiel vorangehen.
»Ich habe vergessen, wie der Ort heißt, zu dem Mummy geflogen ist«, sagte der Junge weinerlich.
»Sie ist ins Engadin geflogen. Das ist eine Tallandschaft in Graubünden. Und Graubünden liegt in der Schweiz.«
»Ach so.«
»Daisy, wo warst du denn so lange?«, fragte in diesem Moment Roy Bennet von der Tür her. »Du weißt doch besser als ich, wo in der Küche die Sachen sind.«
Daisy nickte. Sie kam sich dabei sehr erwachsen vor. Sie hatte ihrer Mutter ganz fest versprochen, sie zu vertreten. Und ein Versprechen musste man unbedingt halten.
»Daddy, ich war nur ein bisschen spazieren. Ich habe nachdenken müssen. Nun bin ich aber gar nicht mehr traurig. Vier Wochen vergehen auch«, fügte sie altklug hinzu.
»So ist es, mein Schatz.« Roy Bennet sah seine Tochter an. Er ahnte, was sie hinausgetrieben hatte. Er litt unter der Trennung von seiner Frau ebenso wie die Kinder unter der Trennung von der Mutter. Aber er hatte eingesehen, dass Mary dringend Erholung brauchte. Sie musste einmal heraus aus dem Alltag. Deshalb hatte er seiner Frau unter Opfern den Ferienaufenthalt im Engadin ermöglicht.
Obwohl das Mittagessen nicht ganz so gut schmeckte wie sonst, griffen die Kinder doch tüchtig zu. Nach dem Essen lief Jeremy wieder hinaus auf den Hof, begleitet von Tommy. Roy und seine Tochter wuschen das Geschirr ab.
»Daddy, nun ist Mummy schon einen ganzen Tag fort. Sie ist gestern Mittag von London abgeflogen. Ich werde täglich einen Tag im Kalender ausstreichen, damit die Zeit schneller vergeht«, erklärte Daisy und stellte die Teller in den Küchenschrank.
»Ich muss am Nachmittag nach Alvery fahren, um Hühnerfutter zu kaufen. Nicht wahr, du passt gut auf Jeremy auf? Er ist doch noch so sehr klein.«
»Keine Sorge, Daddy, ich lasse ihn bestimmt nicht aus den Augen. Kommt die alte Barbara wirklich morgen zu uns?«
»Nur tagsüber, Daisy, damit unser Haushalt besser klappt.«
»Sie kann so schöne Geschichten von Wales erzählen. Auch Mummy kennt viele Legenden, Daddy.«
»Ich weiß. Sie ist eine echte Waliserin. Du weißt ja, dass diese kleine Farm früher ihren Eltern gehörte.«
»Aber du bist in Bristol geboren, nicht wahr, Daddy?«
»Ja, mein Schatz. Ich bin ein echter Städter gewesen. Nun aber liebe ich das Landleben sehr.«
»Weil du Mummy liebhast, Daddy?«
»So ist es, Daisy.«
»Ein Leben ohne unsere Mummy wäre auf die Dauer nicht schön«, meinte das Mädchen altklug.
»Es wäre unvorstellbar. So, nun laufe hinaus zu Jeremy. Ich fahre gleich los.«
Roy ging ins Schlafzimmer, um sich umzukleiden. Er war ein gutaussehender Mann mit leuchtend blauen Augen und mittelblonden Haaren. Sein Teint war tief gebräunt. Man sah ihm an, dass er den ganzen Tag in der frischen Luft verbrachte.
Als Roy sich rasierte, dachte er plötzlich an seine Eltern. Sein Vater war Beamter in Bristol gewesen, seine Mutter hatte eine Halbtagsstellung in einem Modegeschäft gehabt, um noch etwas dazuzuverdienen. Er und sein Bruder Jeremy hatten immer zur See gehen wollen. Sein Bruder hatte das schließlich auch getan. Er selbst aber hatte Mary kennengelernt. Bis zu dem Tag, als sie ihn auf die Farm mitgenommen hatte, hätte er nie geglaubt, dass er eines Tages den Wunsch haben würde, für immer auf dem Lande zu leben. Aber Mary hatte die Farm, die seit Generationen im Besitz ihrer Familie war, geerbt und erklärt, sie könne nur einen Mann heiraten, der Interesse für diese Farm habe.
Roy hatte keine Sekunde gezögert, sondern versichert, er liebe das Landleben. Keine Stunde hatte er seitdem bereut, seine Pläne aufgegeben zu haben.
Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Roy das Haus. Bevor er ins Auto einstieg, umfasste sein Blick das hübsche Landhaus mit dem tiefgezogenen Dach und den hellbraunen Fensterläden.