Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Hühner flatterten erschrocken auf, dann versperrte ihm eine Schar Gänse den Weg. Lachend hupte er mehrmals und fuhr dann weiter. Die Straße schlängelte sich durch grüne Hügel, auf denen Schafe weideten. Weiter unten, in den geschützten Tälern, wo Obstgärten und Felder das Landschaftbild bestimmten, lag Alvery. Er machte an diesem Tag einen Umweg nach dem Ort, um den herrlichen Blick von der Küstenstraße aus zu genießen. Genau wie sein Bruder Jeremy liebte er die Weite des Meeres. Er wäre zweifellos ebenfalls Seemann geworden, wäre er nicht Mary begegnet. Mary war sein Schicksal geworden. Er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt.
Als Roy die Straße nach Alvery entlangfuhr, sah er deutlich das feine schmale Gesicht seiner Frau mit den verträumten braunen Augen und der kleinen geraden Nase vor sich. Mary hatte volle Lippen und wunderschöne Zähne. Ihr dichtes dunkles Haar war leicht gelockt und schwer zu frisieren. Aber er liebte es, wenn sich widerspenstige Löckchen aus ihrer Frisur lösten und sich an ihre Schläfen und ihren schmalen Hals schmiegten. Er fasste auch leidenschaftlich gern in ihre Haarfülle, um das leise Knistern zwischen seinen Fingern zu spüren.
»Mary, kleine Mary«, flüsterte er zärtlich. Dabei wurde ihm plötzlich sonderbar schwer ums Herz. Nun bereute er doch, dass er ihr erlaubt hatte, in die Schweiz zu fliegen. Aber Mary hatte sich von ihrer Freundin Rose zu dem Flug überreden lassen.
Roy kehrte mit seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück, aber die Unruhe in ihm blieb. Nachdem er seine Besorgungen erledigt hatte, kehrte er noch ins Gasthaus ein, um etwas zu trinken. Sofort fiel ihm die gedrückte Stimmung in der Gaststube auf. Als er die Männer, die er fast alle kannte, begrüßte, bekam er kaum eine Antwort. »Was ist denn mit euch los?«, fragte er, als er sich am Stammtisch niederließ.
»Ja, weißt du denn noch nichts von dem Flugzeugunglück? Eine Chartermaschine ist irgendwo in Mitteldeutschland abgestürzt. Nur zwanzig von den hundert Passagieren sollen das Unglück überlebt haben. Die meisten Frauen waren aus Alvery«, antwortete einer der Männer bedrückt.
»Abgestürzt? Eine Chartermaschine?«, fragte Roy erschüttert. Zugleich sagte er sich, dass es bestimmt nicht das Flugzeug gewesen sei, mit dem Mary geflogen war. Die meisten Frauen an Bord der Maschine sollen aber von hier gewesen sein, überlegte er danach mit Entsetzen.
Irgendjemand schob ihm die Tageszeitung über den Tisch zu. Als Roy den Artikel über die Flugzeugkatastrophe gelesen hatte, bestand für ihn kein Zweifel mehr, dass es die Chartermaschine gewesen war, mit der Mary in die Schweiz geflogen war.
»Das kann doch nicht wahr sein«, sagte er tonlos und sah sich wie hilfesuchend um. Sein Gesicht verfiel zusehends. »Nein, ich kann es nicht glauben. Ich kann es nicht!«
»Roy, zwanzig Personen sind gerettet. Sie sind zwar verletzt, aber sie werden durchkommen. Ganz bestimmt. An diese Hoffnung klammern sich fast alle Ehemänner bei uns. Du musst das auch tun, Roy«, redete sein Freund Ben Miles auf ihn ein.
»Du hast recht, Ben. Mary kann gar nicht tot sein. Sie ist gewiss nicht tot«, erwiderte Roy automatisch und verließ fast fluchtartig das Gasthaus.
Als er zu seinem Auto ging, schien hell die Sonne. Geblendet schloss er die Augen. Er hatte das Gefühl, sich in einem Labyrinth zu befinden, aus dem es keinen Ausweg gab. Alles um ihn herum schien seltsam verzerrt zu sein. Ich muss träumen, sagte er sich. Es ist nur ein Traum. Ein furchtbarer Albtraum.
Roy fuhr ganz langsam und zwang sich zur Ruhe. Seine Blicke wanderten über das Land, in dem Mary aufgewachsen war. Wieder sah er sie vor sich. So deutlich, dass er glaubte, sie müsste jeden Augenblick vor ihm auf der Straße auftauchen und ihm zuwinken.
Roy ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen und stieg aus. Er hörte aus der Ferne Glocken läuten. Eine eisige Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Mary ist in dem Flugzeug gewesen, konnte er nur noch denken. Ob sie den Absturz wohl überlebt hatte?
Wieder hörte er die Glocken läuten. Dann erblickte er die Kapelle auf dem felsigen Hügel. Gewaltsam zog es ihn dort hinauf.
Möwen umkreisten das Kirchlein. Es war so alt und verwittert, dass es wie ein Teil des Felsens aussah.
Roy betrat die Kapelle. Zögernd schritt er zwischen den Holzbänken zum Altar hin, der mit Blumen geschmückt war. Dort kniete er nieder. »Herrgott im Himmel, du darfst nicht so grausam sein und mir das Liebste auf der Welt nehmen«, betete er inbrünstig.
Wie lange Roy auf den kalten Steinen gekniet hatte, wusste er später nicht zu sagen. Als er die Kapelle verließ und zu seinem Wagen zurückging, versank die Sonne bereits hinter den Hügeln. Die Zwiesprache mit Gott hatte ihm geholfen. Seine Zuversicht war gestärkt. Fast heiter stieg er vor seinem Haus aus dem Wagen.
Die alte Barbara trat aus dem Haus, gefolgt von den Kindern.
»Daddy, endlich!«, rief Daisy erleichtert. »Du bist so lange fortgeblieben. Sieh doch, die Sonne geht schon unter. Barbara ist schon am Nachmittag gekommen. Sie wollte mit dir sprechen.«
»Ja, das wollte ich, Roy«, erklärte die alte Frau. »Aber ich muss dich allein sprechen.«
Roy zuckte zusammen. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, den Kopf in den Sand zu stecken und der Wirklichkeit aus dem Weg zu gehen. »Daisy, sei doch so lieb und hole die Sachen aus dem Auto«, bat er bedrückt. »Jeremy wird dir helfen.«
»Ja, Daddy. Nicht wahr, du erzählst mir nachher, was Barbara dir gesagt hat?«, raunte sie ihm noch schnell zu. »Ich bin doch deine Große.«
Liebevoll fuhr er seiner Tochter über das blonde Haar. »Ja, Daisy«, erwiderte er und folgte dann der alten Barbara ins Haus.
Dort erfuhr er das, was er schon wusste.
»Ich habe von dem Unglück bereits in Alvery gehört«, entgegnete er erregt. »Aber ich habe mir gesagt, es hat keinen Sinn, sich verrückt zu machen, solange man nichts Genaues weiß.«
»Ich habe den ganzen Nachmittag gebetet und Gott angefleht, unsere Mary …« Die Stimme der alten Frau brach.
»Mary lebt. Ich spüre, dass sie lebt. Aber ich fliege mit der nächsten Maschine nach Deutschland. Nicht wahr, Barbara, du kümmerst dich um die Kinder?«
»Selbstverständlich tue ich das. Ich habe mein Bündel schon mitgebracht, weil ich mir dachte, dass ich gebraucht werde. Sollen wir es den Kindern sagen?«
»Noch nicht, Barbara. Ich …«
»Daddy, ich habe gelauscht!«, rief Daisy von der Tür her. »Ich möchte mitfliegen.«
»Daisy, das ist unmöglich.«
»Daddy, ich möchte aber zu Mummy. Sie liegt bestimmt in einem Krankenhaus und wartet auf uns. Bitte, nimm mich mit!« Flehend hob das Mädchen die Hände.
»Ich möchte auch mit.« Jeremy wusste zwar nicht, worum es ging, aber er wollte auf keinen Fall allein zu Hause bleiben.
»Vielleicht ist es sogar gut, wenn du die Kinder mitnimmst. Mary wird sich nach ihnen sehnen.«
Roy telefonierte mit dem Flughafen in London. Er bekam Plätze in der Frühmaschine des nächsten Tages. Am Abend erhielt er dann ein Telegramm von der Fluggesellschaft, der die Chartermaschine gehörte, mit der Bitte, zum Unfallort zu kommen, um die Schwerverletzten und Toten zu identifizieren.
Daisy las das Telegramm ebenfalls. Erst dadurch kam ihr die Tragweite des Unglücks voll und ganz zu Bewusstsein. Auch bemerkte sie die Tränen in den Augen ihres Vaters. Sie umfasste seine Hand und sagte: »Mummy ist bestimmt nicht tot.«
»Ich hoffe, dass du recht hast. Ich hoffe es von ganzem Herzen.« Roy wandte sich hastig ab, weil er seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
Barbara hatte Jeremy schon zu Bett gebracht und packte nun einen Koffer für die drei. »Du musst jetzt auch ins Bett gehen, Daisy«, sagte sie. »Ihr müsst morgen in aller Frühe aufstehen.«
Daisy nickte und sagte dann gute Nacht. Als Barbara mit ihr kommen wollte, bat sie: »Bleib lieber bei Daddy. Er braucht dich, Barbara. Ich gehe immer allein zu Bett.«
Dann stieg