Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg

Sophienlust Paket 3 – Familienroman - Patricia Vandenberg


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ihrem Vater. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass ihre Mutter tot war.

      Roy fuhr nicht sofort zur Wildmooser Kirche, sondern schlug den Weg zum Unfallort ein. Als sie an Pferdekoppeln vorbeikamen, richtete sich Jeremy auf und sagte begeistert: »Schau doch, Daddy, dort sind Ponys. Viele Ponys. Solche haben wir auch daheim.«

      Roy antwortete nicht. Als er die Unfallstelle erreicht hatte, an der noch einige Wrackteile herumlagen, bremste er ab. »Kommt«, bat er. »Steigt aus.«

      Stumm schritten die beiden dann neben ihm her, als er über das Gelände ging. Plötzlich riss sich Jeremy von seiner Hand los. »Schau doch, Daddy, da ist ein Teddybär. Ob den ein Kind verloren hat?«

      »Lass den Teddy liegen«, rief Roy barsch. »Komm sofort hierher.«

      Der seltsame Ton in der Stimme seines Vaters erschreckte den Jungen so sehr, dass er zu weinen anfing.

      Roy hob Jeremy hoch und drückte ihn an sich. »Schon gut, Jeremy«, sagte er und presste sein Gesicht an das Kind. Ein hartes Schluchzen stieg ihm in die Kehle.

      Als er den Jungen wieder auf seine Beine stellte, hatte er von neuem das Gefühl, nur einen schlimmen Traum zu haben. Ich werde noch wahnsinnig, dachte er. Seine Schultern sackten wie unter einer schweren Last leicht nach vorn.

      Daisy weinte leise vor sich hin. Jeremy aber hatte sich schon wieder beruhigt und starrte auf die Wrackteile.

      »Daddy, schau doch, da ist ein großes Rad!«, rief er begeistert.

      Roy achtete nicht auf die Worte seines Sohnes. Er umschloss die Hand des Jungen fester und verließ dann mit seinen beiden Kindern den Unfallort, um zur Wildmooser Kirche zu fahren.

      *

      Seit dem furchtbaren Unglück vor zwei Tagen zog es Renate Hagen immer wieder zu der Unglücksstelle. Sie konnte das kleine Mädchen, dem sie die Augen zugedrückt hatte, nicht vergessen. Inzwischen hatte sie erfahren, dass auch die Eltern des Kindes ums Leben gekommen waren.

      Auch an diesem Tag war Renate wieder zum Unglücksort gekommen. Ihr Blick wurde wie magnetisch angezogen von dem großen blonden Mann in der hellen Tweedjacke. Auch die beiden Kinder interessierten sie. Offensichtlich handelte es sich bei diesen drei Menschen um Angehörige eines Verunglückten. Ob die Kinder ihre Mutter verloren hatten? Und der Mann seine Frau?, überlegte Renate. Alles sprach dafür.

      Tiefes Mitleid erfüllte Renates Herz. Irgendetwas zwang sie, dem Mann und den Kindern zur Kirche zu folgen.

      Roy betrat die Wildmooser Kirche. Der Anblick der vielen Särge und brennenden Kerzen sowie der Weihrauchduft versetzten ihn von neuem in den Zustand, der ihm das Gefühl gab, das alles nicht wirklich zu erleben. Ein allerletztes Mal erfüllte ihn die wahnwitzige Hoffnung, dass Mary sich nicht unter den Toten befinde, dass sie gerettet sei und sich auf dem Wege nach Wales befinde.

      Mit schleppenden Schritten, die Kinder an den Händen, ging Roy von Sarg zu Sarg und las die Namen der Frauen aus Alvery. Daisy entzog ihm plötzlich ihre Hand und ging auf Jeremys anderer Seite weiter. Auch der Junge löste sich nun von seinem Vater und blieb mit seiner Schwester stehen. Seine Mundwinkel zuckten von verhaltenem Weinen. Die unheimliche Stille um ihn herum und die vielen Särge ängstigten ihn. Wie schutzsuchend schmiegte er sich an Daisy.

      Roy vergaß seine Kinder. Noch immer hatte er Marys Namen nicht gefunden. Dann aber stockte ihm der Atem. »Mary Bennet«, las er tonlos. »Mary«, wiederholte er lauter. »Mary«, stöhnte er auf. »Nein, nein, das nicht«, schluchzte er und warf sich über den Sarg. Nun, da er die Gewissheit hatte, dass sie wirklich tot war, traf ihn die Last des Schmerzes mit voller Wucht. Sein Schluchzen wurde lauter, endete in dem tonlosen Schrei einer gequälten Kreatur.

      Daisy umklammerte die Hand ihres Bruders fester und wich von ihrem Vater zurück. Sie begriff sofort, dass ihre geliebte Mummy dort im Sarg lag, dass sie sie nie mehr wiedersehen würde.

      »Daisy, warum ist Daddy so traurig?«, fragte Jeremy mit entsetzten Augen.

      »Jeremy, unsere Mummy ist tot. Sie liegt dort im Sarg. Darum weint Daddy so sehr«, klärte sie ihn auf und fing nun auch herzerweichend zu weinen an. »Mummy ist mit dem Flugzeug abgestürzt.«

      »Aber Mummy hat mir doch versprochen bald wiederzukommen.« Jeremy sah Daisy erschrocken an. »Sie hat mir doch auch versprochen, mir eine Karte zu schreiben.«

      »Jeremy, sie ist gar nicht bis in die Schweiz gekommen. Das Flugzeug ist hier abgestürzt. Auf der Wiese, auf der wir vorhin mit Daddy waren.« Daisy schluchzte lauter.

      »Ich will aber nicht, dass Mummy tot ist!«, rief der kleine Junge fast zornig. »Ich habe sie so lieb, meine liebe Mummy.«

      »Sie kommt nie wieder zu uns, Jeremy.« Daisy strich ihrem kleinen Bruder mit einer mütterlichen Geste über das dunkle Haar.

      Jetzt begriff der Junge, dass er seine Mutter nie mehr wiedersehen würde. In seiner Verzweiflung riss er sich von Daisys Hand los und lief planlos an den Särgen entlang.

      Daisy ließ ihn gewähren, weil sie plötzlich so schrecklich weinen musste. Sie sank auf eine Bank und weinte hemmungslos.

      Renate Hagen, die den dreien gefolgt war, hatte nichts von der kleinen Szene zwischen den Kindern bemerkt. Noch immer ruhte ihr Blick voll Mitleid auf dem verzweifelten Mann, dessen Schultern vom Weinen bebten. Sie hatte das Bedürfnis, ihn zu trösten. Aber sie fand nicht den Mut, zu ihm zu gehen und ihm tröstend übers Haar zu streichen.

      *

      Unbemerkt war die kleine Heidi Holsten Renate gefolgt, obwohl sie genau wusste, dass es den kleineren Kindern verboten war, zur Unfallstelle zu gehen. Sie hatte Schwester Renate, wie die Kinder sie nannten, tief in ihr Herz geschlossen und hatte einfach wissen wollen, wohin sie ging. In sicherem Abstand war sie hinter ihr hergelaufen und ihr bis in die Kirche gefolgt. Nun sah sie die beiden Kinder und bemerkte auch, dass Jeremy sich von der Hand des größeren Mädchens losgerissen hatte. Ihr gefiel der Junge. Sie wollte ihn trösten.

      Jeremy hatte das kleine blonde Mädchen noch nicht bemerkt. Tränenblind lief er an Heidi vorbei hinaus auf den Vorplatz der Kirche. Heidi eilte hinter ihm her und holte ihn bald ein. »Bleib stehen«, bat sie. »Gleich dort vorn ist die Autostraße.«

      Jeremy bohrte seine Hände in die Augen, aber er ging nicht weiter. Dann ließ er die Hände sinken und sah Heidi an. »Mummy!«, rief er. »My dear Mummy ist dead.«

      Heidi verstand ihn nicht, aber sie fühlte sich verpflichtet, auf den kleinen Jungen aufzupassen. Sie überlegte, dass er ungefähr so alt sein müsse wie sie. Er war ja nur ein ganz klein wenig größer als sie. Krampfhaft hielt Heidi den Jungen fest, als er wieder davonlaufen wollte.

      »Nicht!«, rief sie. »Autos! Dort!« Sie deutete auf den Verkehr auf der Straße.

      Jeremy hörte zu weinen auf. Etwas interessierter sah er Heidi an. Dann redete er schnell auf sie ein.

      Natürlich verstand Heidi kein Wort. Aber sie nickte und redete ihm nun tröstend zu. Sie erzählte ihm auch, dass sie selbst keine Eltern mehr habe und in Sophienlust lebe. Denn sie war ganz sicher, dass der kleine Junge seine Mutti verloren hatte.

      Jeremy spürte Heidis Mitleid, seine Hand stahl sich in die ihre. Heidi war sehr stolz über das Vertrauen des fremden Jungen. Sie nahm an, dass der kleine Junge ebenfalls Engländer sei.

      Über die vielen Toten, und dass sie aus England stammten, hatten sie sich in Sophienlust oft unterhalten.

      Sophienlust? Ja, Heidi wollte mit dem Jungen nach Sophienlust gehen. Dort würde man ihn verstehen. Tante Isi, Tante Ma und Schwester Regine waren sehr klug und konnten sich mit allen ausländischen Kindern verständigen. Und Nick und Irmela hatten auch schon eine Menge in der Schule gelernt.

      »Komm mit«, bat sie.

      Jeremy sah sie verständnislos an.

      »Wie heißt du?«, fragte Heidi. »Ich bin die Heidi. Ich – Heidi.« Sie tippte sich auf die Brust.

      »Heidi«, wiederholte Jeremy langsam. »You are


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