Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
heute ganz einfach nicht nach Hause«, rief er entschlossen.
»Dann fahre ich mit deiner Mutti mit«, erwiderte die vierjährige Heidi Holsten sofort erfreut. »Bestimmt nimmt mich Tante Isi mit.«
»Das glaube ich kaum.« Henrik funkelte das kleine Mädchen an. »Mutti wird nicht mit dem Tausch einverstanden sein«, fügte er eifersüchtig hinzu.
Schwester Regine lachte. »Henrik, du bist mir einer. Du möchtest über Nacht in Sophienlust bleiben, aber dass Heidi an deiner Stelle deine Mutti nach Schoeneich begleitet, das passt dir auch nicht.«
»Heidi könnte dir doch ihr Bett überlassen«, schlug Pünktchen, ein reizendes zwölfjähriges Mädchen, fröhlich vor. »Und Heidi schläft dafür in deinem Bett in Schoeneich.«
»Dann fahre ich lieber mit«, erklärte der siebenjährige Henrik kategorisch. »Ich …«
Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach ihn. Einen Moment hatten alle das Gefühl, in einem schwankenden Boot zu sitzen. Ein Krachen und Bersten ertönte, Fensterscheiben zersplitterten. Die Kinder schrien und sprangen auf. Die Erwachsenen aber waren alle bleich geworden. Mit angehaltenem Atem lauschten sie.
Nick fand als erster die Sprache wieder. »Irgendwo hier ganz in der Nähe ist etwas explodiert. Es war ganz bestimmt eine Explosion.«
Heidi weinte laut, während Henrik angstvoll die Hand seines großen Bruders umklammerte. Die größeren Kinder versuchten die kleineren zu beruhigen, denn die Kleinen stimmten nun in Heidis Weinen ein.
»Ihr bleibt auf alle Fälle im Haus«, bestimmte Frau Rennert, die Heimleiterin. Sie war nach dem Knall sofort in den Speisesaal gekommen.
»Ich muss aber hinaus!«, erklärte Nick. »Nein, Pünktchen, du nicht!«, rief er seiner kleinen Freundin zu.
Aber die großen Kinder ließen sich durch nichts zurückhalten. Sie drängten trotz der Ermahnungen der Heimleiterin zur Tür hinaus. Auch Schwester Renate war dabei. Als Krankenschwester wollte sie ihre Hilfe anbieten, falls es Verletzte geben sollte.
Schwester Regine hatte Mühe, die kleineren Kinder im Haus zu halten. Frau Rennert und die Köchin Magda unterstützten sie dabei. Mit vereinten Kräften gelang es den Erwachsenen schließlich, die aufgeregten Kinder zu beruhigen.
Währenddessen standen einige Erwachsene und die großen Kinder aufgeregt vor der Freitreppe des Herrenhauses von Sophienlust. Es war noch taghell. Alle rätselten herum, was geschehen sein könnte, als der alte Justus außer Atem angelaufen kam. Er musste erst mehrmals nach Luft schnappen, bevor er reden konnte. »Ein Flugzeug ist abgestürzt. Ganz in der Nähe. Auf der Wiese zwischen Wildmoos und Bachenau. Ich glaube, keiner hat das Unglück überlebt.« Er fuhr sich mit seinem großen grünen Taschentuch über die schweißnasse Stirn.
»Entsetzlich«, flüsterte Nick. »Das Flugzeug hätte auch auf Sophienlust oder Schoeneich fallen können.«
»Oder auf eines der Häuser in Wildmoos. Wäre es direkt über Wildmoos abgestürzt, wäre noch mehr geschehen«, überlegte Irmela Groote, ein vierzehnjähriges Mädchen.
»Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre«, pflichtete Pünktchen ihr bei. Dabei fasste sie wie hilfesuchend nach Nicks Hand.
Alle liefen nun zu der großen Wiese.
Kurz darauf trafen auch Denise und Alexander von Schoenecker am Unfallort ein.
Denise wurde totenblass beim Anblick der Flugzeugtrümmer, die weit verstreut herumlagen.
»Alexander, das ist doch kein Anblick für die Kinder«, sagte sie erregt. »Schick sie nach Hause. Ich kann es nicht.«
»Ich bin der Meinung, dass sie dableiben sollten, Denise. Es sind ja nur die großen Kinder hier. Vielleicht können sie irgendwie helfen.«
»Pünktchen ist doch erst zwölf. Mein Gott, die armen Menschen!«, rief Denise erschüttert.
»Da kommen die ersten Rettungswagen. Und auch die Polizei. Ich bin fast sicher, dass niemand das Unglück überlebt hat«, meinte Alexander leise.
Pünktchen begann laut zu schreien, als sie einen der toten Passagiere erblickte. Denise war froh, dass sie nun einen plausiblen Grund hatte, den schaurigen Platz zu verlassen. »Sei ruhig, mein Kleines, ganz ruhig«, redete sie dem Mädchen zu.
Alexander hielt es nun doch für besser, alle Kinder nach Hause zu schicken. Sie folgten Denise und Pünktchen ohne Widerspruch. Nur Nick blieb noch da. Ebenso Renate Hagen. Sie hoffte, dass doch einige Passagiere das Unglück überlebt hatten. Obwohl sie als Krankenschwester abgehärtet war, drehte sich ihr fast der Magen um, als sie mit den Rettungsmannschaften nach Überlebenden suchte. Leichenteile wurden auf die bereitstehenden Bahren gelegt.
»Es wird schwer sein, die Verunglückten zu identifizieren«, erklärte Frau Dr. Frey, die ganz grün im Gesicht war. »So etwas habe ich noch niemals …«
»Kommen Sie schnell!«, rief Schwester Renate in diesem Augenblick aufgeregt. »Hier ist eine Überlebende. Kommen Sie schnell!« Sie blickte wie gebannt auf eine junge rothaarige Frau, die halb unter einem Wrackteil lag und laut stöhnte. »Help me! Help me!«, rief sie dann.
Kurz darauf lag die Verunglückte auf einer Trage. Sie wurde in Eile zu einem Rettungswagen getragen und dort von Frau Dr. Anja Frey versorgt.
Renates Hoffnung, noch weitere Überlebende zu finden, wuchs. Sie hatte ihren Schwächeanfall nun überwunden und dachte nur noch daran, dass hilflose Menschen ihre Hilfe benötigten. Als sie Frau Dr. Frey sagte, sie sei Krankenschwester, war diese ihr unendlich dankbar für die fachmännische Hilfe.
Tapfer stieg Renate über Wrackteile und zerfetzte Gepäckstücke, über Handtaschen und Kleidungsstücke und über ein totes kleines Mädchen hinweg, das einen großen Teddybären im Arm hielt. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie die großen dunklen Kinderaugen zudrückte. »Schlaf gut, mein Kleines«, flüsterte sie ergriffen und ging schnell weiter, weil sie wusste, dass man sie brauchte.
Bis in die Nacht hinein suchte man mit Scheinwerfern nach Überlebenden. Nick und sein Stiefvater Alexander von Schoenecker blieben bis zuletzt da, genau wie Renate Hagen.
Als die Uhren von den Kirchtürmen der Umgebung Mitternacht schlugen, hatte man zwanzig Schwerverletzte gerettet. Erschöpft fuhr sich Renate über die Stirn. Sie taumelte ein wenig, als sie, geführt von Alexander von Schoenecker, zum Wagen ging. »Ich habe das Gefühl, einen wüsten Traum zu haben«, flüsterte sie und überließ sich dann ihren Tränen.
»Man hat nur ein Kind gefunden. Die Chartermaschine war hauptsächlich von Frauen besetzt. Es war ein Ferienflug nach dem Engadin. Es sollen Mütter aus dem gleichen Ort gewesen sein«, erzählte Nick.
»Mein Gott, wie furchtbar. Wie viele Familien werden davon betroffen sein?« Renate trocknete ihre brennenden Lider. »Wie viele Kinder werden ihre Mütter, wie viele Männer ihre Frau verloren haben?« Sie schluchzte auf.
»Vati, ein Teil unserer Bäume wurden wie Streichhölzer geknickt«, fuhr Nick fort. Auch er konnte nur schwer seine große Erregung verbergen. Er hatte das Gefühl, diesen entsetzlichen Anblick sein Leben lang nicht mehr vergessen zu können. Besonders nicht das tote kleine Mädchen mit dem großen Teddybären im Arm.
Alexander war froh, als sie Sophienlust erreichten. Die Kinder schliefen schon, aber keiner der Erwachsenen hatte es über sich gebracht, zu Bett zu gehen. Sie hatten sich in der Halle versammelt und sprachen dort über das Unglück.
Als Denise Nicks graues Gesicht sah, ging sie ihm entgegen und legte ihren Arm um seine Schultern. »Komm, mein Junge, du musst schleunigst ins Bett.«
Nick sah sie dankbar an. Es wurde ihm kaum bewusst, dass seine Mutter ihn die Treppe hinaufführte.
»Mutti, es war entsetzlich«, flüsterte er, als sie ihm beim Ausziehen half. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich geweigert, sich von ihr helfen zu lassen. In diesem Moment war er froh, dass sie bei ihm war. Und dann hatte er plötzlich einen merkwürdigen Druck im Hals und spürte ein Ziehen im ganzen Körper.