Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
sogleich mit gespielter Empörung, »schau du lieber in den Spiegel. Du bekommst langsam einen Bauch.« Sie zwinkerte Denise zu, denn Hans-Joachim war groß und schlank und hatte gewiss keine Anlage, Speck anzusetzen.
»Das kommt daher, dass ich nichts zu tun habe und den ganzen Tag Däumchen drehe. Andrea nimmt mir meine Arbeit fort.«
»Tue ich das wirklich?« Sie blinzelte ihn übermütig an.
»Spaß beiseite, Mutti, Andrea mutet sich wirklich zu viel zu. Ich habe nichts dagegen, dass sie in der Praxis hilft. Aber ich mag es nicht, dass sie sich dazu noch so sehr für das Tierheim engagiert. Unser guter Koster würde auch ohne ihre Hilfe die Arbeit dort bewältigen.«
»Aber ich helfe ihm leidenschaftlich gern. Ich fühle mich irgendwie verpflichtet, die Tiere dort zu hegen und zu pflegen. Ja, mich macht diese Arbeit glücklich. Hans-Joachim versteht das, auch wenn er es nicht zugeben will. Wir beide geben uns in unserer Tierliebe nichts nach. Stimmt das, mein Lieber?«
»Es stimmt«, gab er fröhlich zu.
Peterle fühlte sich vernachlässigt und tat das durch wütende Laute kund. Andrea hob ihn aus dem Stubenwagen. »Sei nicht so egoistisch, mein Sohn«, warf sie ihm sanft vor. »Er glaubt nämlich, er sei der Mittelpunkt unserer Familie.«
»Was er ja auch ist.« Denise sah ihren Enkel liebevoll an.
In Peterles braune Augen trat ein sinnender Ausdruck. Dann streckte er die Arme nach Denise aus, sodass Andrea ihn ihrer Mutter gab.
Als der Kleine ihr jauchzend ins Gesicht patschte, rief Denise: »Nicht so grob, Peterle.« Dabei stellte sie aber wieder einmal fest, dass sie sich um die drei gewiss keine Sorgen zu machen brauchte. »Heute früh ist Fräulein Hagen abgereist«, erzählte sie.
»Ich finde sie sehr nett. Weißt du, was ich mir überlegt habe, Mutti?« Andrea strich das Laken in dem Stubenwagen glatt und schüttelte die Kissen auf.
»Was?«
»Dass sie gut zu Roy Bennet passen würde.«
»Ihr beide seid unverbesserlich im Stiften von Ehen!«, rief Hans-Joachim. »Ich gehe in die Praxis. Bleib nur bei deiner Mutter, Andrea. Ich brauche dich im Augenblick nicht.«
Während Denise und Andrea sich unterhielten, bewunderten die Kinder die Tiere im Tierheim. Auch die Kinder, die jedes Tier schon seit langem kannten, taten das gebührend. Denn jedes Mal waren die Tiere für sie ein neues Erlebnis.
Jeremy war nicht von Billy fortzukommen. Und das Liliput-Pferdchen schien sich ebenfalls zu dem kleinen Engländer hingezogen zu fühlen, denn es lief ihm wie ein Hündchen nach.
Helmut Koster, der einmal im Zirkus gearbeitet und auch längere Zeit in England gelebt hatte, unterhielt sich gern mit Jeremy. Der kleine Junge sah bewundernd zu ihm auf. Plötzlich erklärte er: »Wenn ich einmal groß bin, werde ich auch Tierpfleger.«
»Aber du erbst doch die Farm deines Vaters«, meinte Nick.
»Das ist wahr.« Jeremy sah auf einmal ganz traurig aus, und Nick hätte sich ohrfeigen können, weil er den Anstoß dazu gegeben hatte.
»Ich möchte immer hierbleiben«, fuhr Jeremy leise fort. »Weil doch meine Mummy im Himmel ist und Daisy mich nicht mehr mag. Und Daddy ist schrecklich traurig.«
Helmut Koster wollte den Kleinen ablenken. »Ich muss jetzt die Schimpansen füttern«, erklärte er fröhlich. »Und wisst ihr, wer mir heute dabei helfen darf?«
»Jeremy darf das«, sagte Heidi lächelnd. »Damit er nicht mehr so traurig aussieht.«
»Du hast es erraten, Heidi.« Helmut Koster wandte sich nun an den Jungen. »Come on!«, rief er.
Das ließ sich Jeremy nicht zweimal sagen. Mit klopfendem Herzen folgte er dem Tierpfleger in die Box von Luja und Batu. Er war noch nicht lange genug hier, um zu wissen, dass die Schimpansen niemandem etwas zuleide taten. Als Luja neugierig schnatternd auf ihn zugelaufen kam, griff er vorsichtshalber nach der Hand des Tierpflegers.
»Keine Angst, mein Junge«, sagte Helmut Koster auf Deutsch. »Die beiden tun dir nichts.«
»Ich haben verstanden«, erwiderte Jeremy stolz.
Heidi nahm die Gelegenheit wahr, von Nick ein paar englische Brocken zu lernen, die sie nachher Jeremy sagen wollte. Da Jeremy sie zu seiner besonderen Freundin auserkoren hatte, fühlte sie sich verpflichtet, seine Muttersprache zu lernen. Sie lief immerzu hinter den Kindern und Erwachsenen her, die Englisch sprechen konnten, um sie nach allen möglichen Worten zu fragen. Die Folge davon war, dass sie schon einiges gelernt hatte, worauf sie sehr stolz war.
Am Nachmittag brachte Andrea die Kinder wieder nach Sophienlust zurück. Jeremy war so aufgeräumt von dem Besuch im Tierheim, dass er Renate an diesem Abend kaum vermisste. Dafür weinte er am nächsten Morgen umso mehr. Erst jetzt begriff er, dass sie tatsächlich abgereist war.
*
Renate weinte zwar nicht, als sie am gleichen Morgen in ihrem winzigen Appartement in Ulm aufwachte, aber sie fühlte sich einsam und verlassen wie seit langem nicht mehr.
Unlustig stand sie auf und duschte. Danach bereitete sie sich Kaffee zu und rauchte dazu eine Zigarette. Appetit hatte sie keinen. Außerdem bekam sie ein gutes zweites Frühstück in der Klinik. Sie musste immer ein wenig auf ihre Figur achten und aß deshalb zu Hause meist nichts zum Frühstück.
Bevor Renate ihre Wohnung verließ, blätterte sie wieder einmal die Briefe von Roy durch, die sie mit einem hellblauen Seidenband zusammengebunden hatte. Sie bedauerte zutiefst, dass sie kein Bild von ihm besaß. Aber bisher hatte sie es nicht gewagt, ihn in ihrem Brief darum zu bitten.
Nach einem Blick auf die Uhr stellte Renate fest, dass sie sich nun beeilen musste. In niedergedrückter Stimmung verließ sie das Appartement und fuhr mit dem Lift zur Tiefgarage hinunter. Dort traf sie einige Hausbewohner, die sie herzlich begrüßten.
»Waren Sie nicht in der Gegend, in der das furchtbare Unglück geschah?«, fragte eine junge Dame neugierig.
»Ja, das Flugzeug ist ganz in der Nähe von uns abgestürzt.«
»Es muss schrecklich gewesen sein.«
»Es war furchtbar«, erwiderte Renate leise. Sie hatte keine Lust, mehr darüber zu erzählen, und verabschiedete sich hastig.
Eine Viertelstunde später stellte sie ihren Wagen auf dem Parkplatz des Krankenhauses ab. Als sie das große helle Haus betrat, fühlte sie sich schon froher. Von allen Seiten wurde sie mit großer Herzlichkeit begrüßt. Die Oberschwester versicherte ihr, dass alle sie sehr vermisst hätten. Auch sie und das übrige Personal stellten Fragen nach dem Unglück. Und diesmal erzählte Renate ausführlicher davon.
Bei der Morgenvisite begegnete Renate dann dem Oberarzt Dr. Jürgen Aigner. Das Aufleuchten in seinen dunklen Augen versetzte sie in leichte Verlegenheit. Noch vor ihrem Urlaub hätte ihr Herz dabei schneller geschlagen. Nun aber war es ihr eher peinlich, dass er seine Freude über ihr Wiedersehen so offen zeigte.
Nach dem Mittagessen kam eine der Hilfsschwestern zu ihr und sagte: »Der Oberarzt möchte Sie sprechen, Schwester Renate.«
»Danke, Schwester.« Renate ordnete ihr Haar ein wenig vor dem kleinen Spiegel im Schwesternzimmer. Dabei überlegte sie, was der Oberarzt von ihr wollen könne. Fast etwas schüchtern klopfte sie an die Tür seines Zimmers.
Dr. Jürgen Aigner saß hinter seinem Schreibtisch. Als Renate eintrat, nahm er seine Brille ab und steckte sie in die obere Tasche seines weißen Kittels. Lächelnd bot er ihr Platz an.
»Gut sehen Sie aus, Schwester Renate. Ich danke Ihnen für Ihre Ansichtskarte. Dieses Sophienlust scheint in einer idyllischen Gegend zu liegen.«
Renate hatte ganz vergessen, dass sie ihm gleich zu Anfang ihres Aufenthaltes in Sophienlust eine Karte geschrieben hatte. Sie lächelte höflich und erwiderte: »Sophienlust ist das schönste Kinderheim, das ich kenne. Die Leute nennen es ein Paradies für Kinder.«
»Dieses