Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Seit Tagen hatte Roy keinen Brief mehr von Renate erhalten. Zufällig traf er dann den Postboten. Impulsiv fragte er ihn, ob er ihm diesmal einen Brief aus Deutschland gebracht habe.
»Ja, Mister Bennet, das habe ich. Vorgestern kamen ja gleich zwei auf einmal«, antwortete der gute Mann.
»Vorgestern? Ach ja.« Roy war wie vor den Kopf geschlagen. War es denn möglich, dass Daisy ihm die Briefe unterschlug? »Auf Wiedersehen«, murmelte er und ging weiter.
Daisy stand mit vom Kochen geröteten Wangen am Herd und rührte in einem Topf herum. »Ach, da bist du ja, Daddy!«, rief sie. »Das Essen ist gleich fertig. Heute gibt es einen Gemüseeintopf. Warum siehst du mich denn so böse an?«
»Wo sind die Briefe?«, fragte er barsch.
»Welche Briefe?«, stotterte sie und schrie leise auf, weil sie sich am Kochtopf verbrannt hatte.
Roy achtete nicht darauf. »Du weißt genau, welche Briefe ich meine. Ich habe den Postboten getroffen.«
»Bitte, Daddy, nicht böse sein.
Ich … Ach …« Daisy schlug die Hände vors Gesicht.
»Wo sind die Briefe?«
»Ich habe sie verbrannt, Daddy«, gestand sie.
»Verbrannt? Bist du denn von Sinnen?« Zum erstenmal in seinem Leben schlug er seine kleine Tochter. Entsetzt sah sie ihn aus übergroßen Augen an und wimmerte dann wie eine gequälte Kreatur.
»Auch den heutigen?«, fragte Roy. Er war selbst erschrocken über seine unbeherrschte Reaktion.
»Auch den heutigen«, flüsterte Daisy. »Du hast mich ja nicht mehr lieb, Daddy. Oh, wie ich sie hasse. Sie hetzt dich gegen mich auf in ihren Briefen. Sie hat mir auch Jeremy fortgenommen. Er will nicht mehr nach Hause. Und nun schlägst du mich. Mummy wäre sehr böse gewesen. Mummy hat es bestimmt gesehen«, schluchzte
sie.
Roy verließ die Küche. Er fühlte sich ausgehöhlt wie ein morscher Baum. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Sein Blick fiel auf das Bild von Mary. Er nahm es zwischen seine Hände und sah seine Frau an. »Mary, was soll ich nur tun?«, fragte er müde. »Ich weiß mir keinen Rat mehr. Mary, warum kannst du nicht antworten?«
Da war ihm, als nicke sie ihm begütigend zu. Dann glaubte er ihre Stimme zu hören. Sie sagte: »Tu das, was dir dein Herz befiehlt, Roy.«
»Mein Herz verlangt nach Ruhe und Verständnis und nach Liebe, Mary. Ich werde dich immer lieben, aber ich muss an die Kinder denken.«
»An dich musst du auch denken«, schien sie ihm zu antworten. »Du bist ein junger kräftiger Mann und hast noch einen langen Weg vor dir. Ich habe nichts dagegen, dass du ein neues Glück suchst, Roy.«
Roy stellte das Bild auf den Schreibtisch zurück. Er wusste genau, diese Antworten hätte ihm auch die lebende Mary gegeben. Sie hatte immer Verständnis für alles gehabt und war niemals wirklich egoistisch gewesen.
»Daddy, ich …«
Roy hörte die zaghafte Stimme seiner kleinen verzweifelten Tochter nicht. Er war noch ganz befangen von seinen Erinnerungen an Mary und den Worten, die er eben zu hören geglaubt hatte.
Daisy zog die Tür ebenso leise, wie sie sie geöffnet hatte, wieder zu. Ganz schlecht war ihr vor Aufregung und dem Gefühl von Verlassenheit. Sie wollte zu Mummy, zu ihrer lieben Mummy.
»Komm, Tommy!«, rief sie ihrem Hund leise zu, als sie das Haus verließ.
So schnell die Füße sie trugen, lief sie über den Hof hinaus auf die Straße.
Der Weg zum Friedhof war weit. Es fing auch schon an dunkel zu werden. Aber daran dachte Daisy nicht. Außerdem fühlte sie sich mit Tommy zusammen ganz sicher. Der Hund würde sie beschützen, überlegte sie, als sie nach ungefähr einer Stunde den Friedhof von Alvery erreichte.
Noch nie war Daisy nachts auf dem Friedhof gewesen. Ob die Toten tatsächlich um Mitternacht aus ihren Gräbern stiegen, wie ihre Schulfreundin Pamela ihr vor kurzem erzählt hatte?, überlegte sie. Würde sie dann vielleicht ihre Mummy wiedersehen?
Ängstlich sah sich Daisy um. Wie still es plötzlich um sie herum war. Nein, dort raschelte etwas. Glühende Augen sahen sie an. Tommys Rückenhaar sträubte sich. Das geschah immer dann, wenn er eine Gefahr witterte. Nun knurrte er auch verhalten.
»Tommy, was ist denn los?«, fragte Daisy.
Tommy machte plötzlich einen Satz auf die glühenden Augen zu. Daisy hörte einen Schrei und das Fauchen einer Katze. Vor Erleichterung schossen ihr Tränen aus den Augen. »Komm, Tommy«, bat sie. »Wir gehen zu Mummy.«
Der Hund folgte ihr mit eingezogenem Schweif.
Dann kniete Daisy vor dem Grab ihrer Mutter nieder. »Mummy, ich bin so schrecklich unglücklich«, klagte sie. »Niemand hat mich noch lieb. Ich möchte zu dir. Liebe Mummy, ich …« Sie unterbrach sich und lauschte auf die Glockenschläge vom nahen Kirchturm.
»… drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht«, zählte sie.
»Tommy, wenn wir unsere Mummy wiedersehen wollen, dann müssen wir noch vier Stunden hierbleiben. Aber ich habe Angst. Du auch?«
Der Hund schmiegte sich an sie. Daisy schloss die Augen und bildete sich ein, daheim in ihrem Zimmer zu sein. Aber ein Windstoß fegte über sie hinweg, und dann begann es zu regnen.
»Tommy, wir müssen irgendwo Schutz suchen«, sagte Daisy und blickte sich furchtsam um.
Nebelschwaden stiegen vom Boden hoch. Daisy bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. Impulsiv lief sie zu der kleinen Kapelle hin. Die Tür war nur angelehnt. »Komm, Tommy«, befahl sie dem Hund und betrat die kleine Kirche.
Auf dem Altar brannten Kerzen. Tommy knurrte leise, als Daisy ein Geräusch hörte. Und dann erkannte sie den weißhaarigen Pfarrer, der sich umdrehte und sie verwundert anblickte.
»Daisy, was machst denn du um diese Zeit hier?«, fragte der alte Mann kopfschüttelnd. »Es ist schon nach acht. Ist dein Vater auch da?«
»Nein, Herr Pfarrer. Ich wollte Mummy besuchen und mit ihr sprechen. Pamela hat nämlich gesagt, dass alle Toten um Mitternacht aus ihren Gräbern steigen. Ich wollte bis dahin warten.«
»Pamela hatte schon immer eine lebhafte Phantasie. Komm, kleine Daisy.« Er umfasste ihre eiskalte Hand. »Deine Mummy kommt nie wieder. Ihre Seele ist in den ewigen Frieden eingegangen. Nur ihre sterblichen Überreste sind hier zur Ruhe gebettet worden.«
»Ich bin so unglücklich«, schluchzte die Kleine und klammerte sich an den Pfarrer.
»Ich bringe dich jetzt heim«, erklärte der Geistliche. »Dein Vater wird dich schon vermissen.«
»Daddy hat mich nicht mehr lieb. Daddy mag nur die Deutsche, die mir auch Jeremy fortgenommen hat.« Daisys Weinen wurde lauter, und Tommy winselte.
Der Pfarrer ging mit den beiden zum Pfarrhaus und rief von dort auf Roys Farm an. Als sich niemand meldete, meinte er: »Sicherlich sucht dein Vater dich schon verzweifelt, Daisy.«
»Ich habe etwas ganz Schreckliches getan«, gestand sie ganz erregt. »Daddy will überhaupt nichts mehr von mir wissen.«
»Was für eine Sünde hast du denn begangen, Daisy?« Gerührt blickte der Pfarrer auf den gesenkten blonden Kinderkopf.
»Ich habe … ja, ich habe die Briefe verbrannt, weil ich nicht wollte, dass Daddy die Deutsche wiedersieht. Ich wollte …«
»Das ist allerdings ein schlimmes Vergehen, mein Kind. Aber Gott wird dir verzeihen, und dein Daddy auch«, fügte er lächelnd hinzu.
Daisy weinte nun wieder lauter. Liebevoll strich der Pfarrer ihr übers Haar und bat: »Nun komm, mein Kind. Ich fahre dich und deinen Hund nach Hause.«
Als sie das Pfarrhaus verließen, hielt im gleichen Augenblick ein Wagen vor