DIE LANZE (Project 2). Alex Lukeman

DIE LANZE (Project 2) - Alex  Lukeman


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das, was er war: den gefährlichsten Mann in ganz Nazi-Deutschland. Nur Hitler hatte mehr Macht.

       Reinhardt hob seinen Arm und schlug die Fersen zusammen.

       »Folgen Sie mir, General.« Himmler stand auf. Reinhardt begleitete ihn zum Gepäckwagen. Vier mit Schmeisser-Maschinenpistolen bewaffnete SS-Wachen nahmen die Habachtstellung ein.

       »Lasst uns allein.«

       Himmler bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, zu gehen. Auf einem Tisch an der Seite des Wagens stand eine offene Kiste. In der Kiste befand sich eine polierte Box aus schwarzem Walnussholz. Auf dem Deckel prangte ein Hakenkreuz mit Siegeskranz aus purem Gold und mit eingelassenen Diamanten. Die Steine glitzerten im Lampenlicht.

       Himmler hob den Deckel. Die heilige Lanze war darin auf blutroter Seide gebettet. Der Speer, der Christus durchbohrt hatte. Reinhardt legte seine Hand auf die antike Klinge. Selbst in der Kälte des ungeheizten Eisenbahnwaggons fühlte sie sich warm an.

       Es hieß, wer auch immer die Lanze besaß, würde das Schicksal der Welt bestimmen. Die Legende wurde von Jahrhunderten in Blut und Eroberung geschrieben. Alle großen europäischen Eroberer trugen die Lanze vor ihren Armeen in die Schlacht. Nur Napoleon hatte sie nicht in seinen Besitz bringen können.

       Manche glaubten, die Macht der Lanze käme vom Antichrist. Reinhardt und Himmler war es egal, woher die Macht stammte. Sie wussten, sie war real. Das war das Einzige, was von Bedeutung war. Nur die Ritter des Großen Rates wussten, dass Himmler die Lanze besaß. Nur Himmler und der Rat wussten, dass es die Lanze war, die während der frühen Kriegsjahre den Sieg gebracht hatte.

       Himmler reichte Dieter ein dickes Paket.

       »Ihre Befehle. Bringen Sie die Lanze zur Antarktis, verbergen Sie sie dort und begeben sich dann nach Argentinien.«

       »Basis 211?«

       Himmler nickte. Nur wenige Menschen, die von der verborgenen Forschungseinrichtung in der antarktischen Wüste wussten, waren noch am Leben. Niemand war seit '42 dort gewesen.

       »Wir werden uns in Argentinien neu gruppieren. Zu gegebener Zeit werden wir die Lanze bergen und unseren Kampf fortführen.«

       Himmler legte in ungewohnt kameradschaftlicher Geste eine Hand auf Reinhardts Schulter.

       »Dieter. Es ist möglich, dass ich diesen Krieg nicht überlebe.«

       Er hob seine Hand, um Reinhardts Protest zu unterbinden. Das Licht spiegelte sich in Himmlers Brille und auf dem Totenkopfring an seinem Finger.

       »Sollte ich fallen, wird es einen neuen Großmeister geben. Unterstützen Sie ihn in jeder Hinsicht.«

       »Zu Befehl, Reichsführer.«

       Ich werde der Großmeister sein, dachte Reinhardt.

       Sie betrachteten beide die heilige Lanze. Es schien, als würde ein leichtes blutrotes Glühen von ihr ausgehen.

       »Für den Augenblick haben wir verloren«, sagte Himmler. »Aber solange sich die Lanze in unserem Besitz befindet, werden wir niemals besiegt werden.«

      Das Rütteln des Schlittens, als er über eine raue Eisfläche fuhr, riss Reinhardt aus seinen Erinnerungen zurück in die Gegenwart. Er konnte das U-Boot in der Ferne sehen, wo es, dunkel wie Jonahs Wal, im offenen Wasser hinter dem glänzenden Rand des Eises wartete.

      Er würde dem Kapitän der U-886 berichten, dass seine Männer von herabstürzendem Eis begraben worden seien. Es spielte keine Rolle. Wenn sie Argentinien erreichten, würden der Kapitän und die anderen sich schon bald zu ihren toten Kameraden gesellen. Es war alles arrangiert.

      Drei Tage später wurde die U-886 von britischen Wasserbomben getroffen, während sie sich der argentinischen Küste näherte. Sie stieg für einen kurzen Moment an die Oberfläche – lange genug, dass der wachhabende Offizier ihren Typ und ihr Abzeichen vermerken konnte – um dann für immer unter den Wellen zu verschwinden.

      Im lichtlosen Gewölbe unter dem Berg wartete die Lanze unter einem Hakenkreuz aus Diamanten. Eines Tages würde jemand kommen. Es war nur eine Frage der Zeit.

      Kapitel 1

      Der süße Duft von Jasmin-Ranken, die an der bröckelnden Wand des Mietshauses in der Altstadt von Damaskus emporkletterten, wehte durch ein geöffnetes Fenster. Ein Mann war mit einem Lötkolben über einen Holztisch gebeugt. Er wischte sich mit einem ausgefransten Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn, während er sich auf seine Aufgabe konzentrierte.

      Ein anderer Mann saß auf einer eingefallenen Couch, die an eine der fleckigen gelben Wände geschoben war, und beobachtete ihn. Er trug einen dunklen Anzug mit europäischem Schnitt. Sein strahlend weißes Hemd war am Kragen geöffnet.

      Der Mann auf der Couch hatte ein ausdrucksloses, unscheinbares Gesicht. Seine Züge waren glatt und ruhig, so als wäre das Leben nie wirklich an die Oberfläche gelangt. Es war heiß in dem Apartment, aber der Mann schwitzte nicht. Seine Augenbrauen waren über seinen farblosen Augen kaum wahrzunehmen. Seine Nase schien in der Unbestimmtheit seiner Züge zu verschwinden. Seine Lippen waren eine dünne unsichtbare Linie.

      Der Mann am Tisch wurde Ibrahim genannt. Der Mann auf der Couch wurde der Besucher genannt, aber das wusste Ibrahim nicht. Es war besser so.

      Die Bombe war fast fertig. Es war eine sehr gute Bombe, vielleicht die beste, die Ibrahim je gemacht hatte – und er hatte schon viele Bomben gebaut. Er war recht bekannt im Netzwerk der Terroristen. Wenn man etwas Ungewöhnliches wollte, zuverlässig und leicht zu verbergen, mit größtmöglicher Zerstörung, dann wendete man sich an den Syrer.

      Jeder mit grundlegenden Elektronikkenntnissen konnte eine Selbstmordweste oder eine Straßenrand-Bombe bauen, aber nur wenige konnten tun, was Ibrahim tat. Das Ausmaß seines Könnens war leicht zu erkennen. Er besaß noch immer fast alle seiner Finger und beide seiner Augen, keine schlechte Leistung für einen alten Bombenbauer.

      Er verlötete die letzte Verbindung, legte den Lötkolben zur Seite und erlaubte sich zu entspannen.

      »Ist sie fertig?«

      Der Mann im Anzug sprach arabisch, seine Stimme ruhig und angenehm. Er stand von der Couch auf und sah dem Bombenmacher über die Schulter. Ibrahim versuchte den Akzent zuzuordnen. Deutsch, möglicherweise.

      Ibrahim nahm eine filterlose Zigarette aus einer zerknitterten gelben Packung, hielt sie zwischen nikotinverfärbten Fingern und zündete sie an. Der strenge Tabakrauch bildete eine blaue Wolke, als er ausatmete. Der Mann im Anzug verbarg sein Missfallen.

      »Ja, fertig. Wenn Sie die Ladung platzieren, stellen und aktivieren Sie den Timer. Es gibt ein vierundzwanzig Stunden Zeitfenster.«

      Ibrahim zeigte seinem Gast die Scharfschaltvorrichtung, die nicht größer als eine Damenarmbanduhr war. Ein roter Pfeil war auf die Umrandung des Ziffernblattes graviert. Auf dem Ziffernblatt waren Markierungen für vierundzwanzig Stunden. Ein zweiter, kleinerer Ring innerhalb des ersten war in zwölf Abschnitte zu je fünf Minuten unterteilt.

      »Stellen Sie die Stunde ein, indem Sie den äußeren Ring im Uhrzeigersinn drehen. Dann drehen Sie den inneren Ring gegen den Uhrzeigersinn für die Feinjustierung. Sie können Ihre Auswahl zurücksetzen, bis Sie diesen Knopf drücken. Danach nicht mehr. Der Timer wird laufen, bis Ihre Einstellung erreicht ist. Die Bombe ist bis zum gewählten Zeitpunkt sicher. Dann … Boom.«

      Der Besucher nickte.

      »Geben Sie mir die Tasche.«

      Der Besucher reichte Ibrahim einen Rucksack. Darauf stand in strahlend gelben Buchstaben über einem grün-gelben Widderkopf Colorado State University. Darin befanden sich


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