Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen

Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman - Christine von Bergen


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Sie jeden Morgen eine solche Hektik haben, bevor die Sprechstunde überhaupt begonnen hat, liegen Sie schnell wieder im Krankenhaus.« Mit diesen knurrig ausgesprochenen Worten empfing Schwester Gertrud ihren Chef. Sie stand hinter der Rezeption mit dem Bestellbuch in den Händen. »Dieser Vormittag wird ohnehin schon stressig für Sie. Und ich habe Ihrer Frau versprochen …«

      »Guten Morgen, Schwester Gertrud«, unterbrach Matthias sie mit belustigtem Lächeln. »Ich freue mich, dass Sie so gut auf mich aufpassen.«

      Nicht umsonst wird sie von den Patienten »der Drache« genannt, dachte er schmunzelnd.

      »Was wollte Thomas Seeger denn schon so früh von Ihnen?«

      Und neugierig war die gute Gertrud auch. Was sie jedoch innerhalb der Praxiswände erfuhr, trug sie niemals nach draußen. Ihre Verschwiegenheit schätzte er genauso wie ihr umfangreiches Wissen, ihre Erfahrung, ihre Zuverlässigkeit und ihr strenges Regiment.

      »Machen Sie mir einen Kaffee?«, beantwortete er ihre Frage auf seine Art.

      »Aber nur einen koffeinfreien. Ihre Frau hat gesagt …«

      »Jetzt vergessen Sie mal, was meine Frau gesagt hat«, schritt er nun energisch ein. »Ich will einen schönen starken Kaffee. Und damit Sie beruhigt sind: Den koffeinfreien habe ich schon zum Frühstück von meiner Frau bekommen.«

      *

      Am Nachmittag machte sich Thomas auf den Weg nach Karlsruhe.

      Dr. Brunner hatte den Hotelier überredet, Sophies Adresse zu verraten. Tiefe Dankbarkeit für den Landarzt erfüllte Thomas. Dr. Brunner half, wo er konnte. Etwas Seltenes in der heutigen Zeit.

      Ein Stau auf der Autobahn, hohes Verkehrsaufkommen in der Innenstadt, mehrere rote Ampelphasen deutete Thomas nicht gerade als die besten Vorzeichen für sein Vorhaben. Das Navigationssystem führte ihn jedoch plangemäß in eine ruhige Nebenstraße. Das war ja schon mal was.

      »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, informierte ihn die Computerstimme des Systems, als er sich auf der Höhe eines Jugendstilhauses befand.

      Hier wohnte Sophie also.

      Er hielt nach ihrem Auto Ausschau. Als er ihren Wagen ein paar Meter weiter am Straßenrand stehen sah, fiel ihm nicht nur der besagte Stein vom Herzen, sondern gleich ein ganzes Gebirge.

      Sophie war zu Hause. Nun würde er den Grund für ihre verfrühte Abreise erfahren.

      Er stieg aus, nahm sich noch nicht einmal die Zeit, die Fahrertür abzuschließen. Die Haustür zu dem Dreifamilienhaus war angelehnt. Er überlegte nicht lange, drückte sie auf und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, zum zweiten Stock hinauf. Die Anordnung der Namensschilder legte nahe, dass Sophie in dieser Etage wohnte.

      Tatsächlich! »Sophie Wittmer« stand an der einzigen Wohnungstür auf einem stilvollen Messingschild.

      Erleichtert atmete er aus, räusperte sich und drückte entschlossen auf die Klingel.

      Keine Antwort.

      Er schellte noch einmal. Länger.

      Wieder keine Reaktion. Nun legte er das Ohr an die weiß gestrichene Tür und lauschte mit angehaltenem Atem auf Geräusche aus dem Innern der Wohnung. Doch da tat sich nichts. Kein einziger Laut.

      Er klopfte, und das nicht gerade zurückhaltend.

      »Sophie, bist du da? Ich muss dich unbedingt sprechen«, sagte er laut und deutlich. »Bitte, mach auf.«

      Nichts. Wollte sie ihn etwa nicht sehen? Die Möglichkeit, die er bisher noch nicht in Erwägung gezogen hatte, traf ihn wie ein Schlag. Unsinn. Es war doch alles wunderbar zwischen ihnen gewesen. Hatte er vielleicht irgendetwas gesagt, getan, was sie verletzt hatte? Er konnte sich nichts Derartiges vorstellen.

      Ratlos blieb er noch eine Weile auf dem leeren Flur stehen, dann ging er die Treppe hinunter. Als er die Haustür öffnete, stand ihm ein älterer Mann in grauem Kittel gegenüber.

      Der Hausmeister?

      »Entschuldigen Sie«, sprach er ihn an, »ich wollte zu Frau Wittmer. Sie ist nicht zu Hause. Wissen Sie vielleicht, wo sie ist?«

      »Die ist heute Morgen weggefahren. Geflogen oder mit dem Zug …« Der Mann im Kittel zuckte mit den Schultern.

      Die Antwort verschlug ihm die Sprache.

      »Sie bat mich, noch mal ein paar Tage die Blumen zu gießen.«

      »Beruflich?«

      »Wer weiß das schon?«

      Was sollte das denn heißen?

      »Wie meinen Sie das?«, fragte er mit fester Stimme.

      »Frau Wittmer hat’s mir nicht gesagt. Gestern Abend war schon mal ein Typ in Ihrem Alter hier und hat nach ihr gefragt.«

      Sein Herz begann schneller zu schlagen.

      »Und?« Er bohrte seinen Blick in den des älteren Mannes.

      »Was und? Ich wohne nicht in diesem Haus. Weiß ich, was hier nachts vor sich geht?« Über das faltige Gesicht huschte der Anflug von Misstrauen. »Was wollen Sie eigentlich von Frau Wittmer? Sind Sie von der Behörde? Oder Ihr Freund?«

      Tja, was war er? Der Mann, der sie liebte. Aber konnte er diese Wahrheit dem Hausmeister anvertrauen? Vielleicht würde er Sophie damit schaden, falls sie bereits gebunden war. Womöglich hatte sie ja doch einen Ehemann und Kinder und war deshalb in einer Nacht- und Nebelaktion verschwunden, weil sie Angst vor ihren Gefühlen bekommen hatte. Dass sie Gefühle für ihn empfand, dessen war er sich sicher. Kein Mensch würde sich derart verstellen können.

      Er biss sich auf die Lippe.

      »Ich bin ein Bekannter von ihr«, flunkerte er schließlich unter Aufbietung aller noch vorhandenen Kraft. »Wir haben sie nicht erreichen können.« Und dann brachte er auch noch ein sorgenfreies Lächeln zustande, bevor er leichthin sagte: »Aber das macht nichts. Uns fällt schon was ein.«

      Daran glaubte er natürlich nicht. Er war sich jetzt gar nicht mehr so sicher, ob er überhaupt noch Nachforschungen nach ihr anstellen sollte. Er liebte sie zu sehr, als dass er ihr das Leben schwer machen wollte. Andererseits … Wollte er kampflos aufgeben? Das war nicht seine Art.

      Auf der Rückfahrt kam er zu dem Schluss, dass er noch Zeit brauchte, um die richtige Entscheidung zu treffen.

      *

      Auch an diesem Abend hielt der Tag, was er seit dem Morgen versprochen hatte. Die Brunners saßen auf der Terrasse und beobachteten, wie sich die Sonne hinter den Baumwipfeln versteckte und sich violette Schatten in den Talsenken ausbreiteten. Ganz langsam krochen sie die bewaldeten Hügel hinauf. Ein gläserner Himmel spannte sich über die Landschaft, an dem sich, einer nach dem anderen, die Sterne entzündeten. Zuerst nur wie schwache Punkte. Doch je dunkler sich der Himmel färbte, desto leuchtender wurden sie.

      »Welch ein Schauspiel« sagte Ulrike Brunner in andächtigem Ton, während sie ihre Hand in die ihres Mannes schob.

      So blieben die beiden eine Weile in harmonischem Schweigen sitzen und beobachteten den Einbruch der Nacht. Der laue Südwind wehte den Duft von Fichtenholz von oberhalb der Schwarzwaldpraxis herunter auf die Terrasse. Ein Käuzchen rief. Unter dem lang gezogenen Schindeldach kreuzten ein paar Fledermäuse. Und am Ende der Terrasse strichen die beiden Katzen vorbei, die dem Landarzt vor Jahren zugelaufen waren. Lump, der zu Füßen seines Herrchens friedlich schlief, störten die anderen Tiere nicht. Auf dem Schwarzwaldhof konnte jeder leben, und jeder wurde satt.

      »Sophie Wittmer ist gestern Abend vorzeitig abgereist, ohne Thomas eine Nachricht zu hinterlassen«, sagte Matthias nach einer Weile. Er hatte seiner Frau natürlich von der Liebesgeschichte erzählt.

      »Oh!« Ulrike sah ihn von der Seite überrascht an.

      »Thomas bat mich, Norbert Kerner nach der Adresse von ihr zu fragen. Ich hatte sie mir nicht notiert, als ich sie behandelt habe.«

      »Und?«


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