MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1). Robert Mccammon

MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1) - Robert Mccammon


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Matthew konnte es im Zusammensacken der Schultern des jungen Mannes erkennen. Allein das deutete für ihn auf den Ausgang ihres bevorstehenden Gesprächs hin. Trotzdem musste er darauf bestehen. John Five hörte mit der Blasebalgarbeit auf, schwenkte den Arm durch die Luft, um Meister Ross' Aufmerksamkeit zu erhaschen, und hielt dann fünf Finger hoch, um sich so viel Zeit für eine Pause zu erbitten. Meister Ross bedachte Matthew mit einem strengen Blick, der sagte: Manche von uns haben Arbeit zu verrichten, nickte kurzangebunden und schlug wieder mit dem Hammer zu.

      Im rauchdurchwirkten Sonnenlicht vor der Scheune wischte John Five sich die glänzende Stirn mit einem Lappen ab. »Matthew, wie geht's?«

      »Gut, danke. Und dir?«

      »Auch gut.« John war nicht so hochgewachsen wie Matthew, hatte aber die breiten Schultern und dicken Unterarme eines Mannes, der geboren war, um Eisen zu bearbeiten. Er war vier Jahre jünger als Matthew, jedoch alles andere als ein naives Bübchen. Im King Street Waisenhaus – das damals noch Das Heim des Geheiligten Johannes für Knaben hieß, bevor es um zwei Gebäude erweitert wurde, in denen elternlose Mädchen und erwachsene Arme aufgenommen wurden – war er von sechsunddreißig Jungen der fünfte John gewesen, daher sein Name. John Five hatte nur ein Ohr, das linke war abgehackt worden. Eine tiefe Narbe am Kinn verzog seinen rechten Mundwinkel zu permanenter Traurigkeit. John Five erinnerte sich noch an einen Vater und eine Mutter und ein Blockhaus auf einer Lichtung in der Wildnis; vielleicht ein verklärtes Bild. Er erinnerte sich an zwei kleine Geschwister, zwei Brüder, glaubte er. An die Palisaden eines Forts konnte er sich erinnern und an einen Mann mit einem goldverzierten Dreispitz, der mit seinem Vater redete und ihm den Schaft eines zerbrochenen Pfeils zeigte. Sein Gedächtnis konnte das schrille Kreischen einer Frau zutage fördern und verschwommene Gestalten, die durch die Fensterläden und die Tür hereinbrachen. Er sah noch, wie sich der Schein des Feuers in einem erhobenen Beil spiegelte. Dann erlosch die Flamme seines Verstandes.

      An eins konnte er sich sehr genau erinnern – und das hatte er Matthew und ein paar anderen eines Nachts im Waisenhaus erzählt –, nämlich an einen spindeldürren Mann mit schwarzen Zähnen, der sich etwas aus einer Flasche in den Mund goss und ihm befahl: Tanz, tanz, du kleines Arschloch! Tanz für unser Abendessen! Und lache, sonst schneide ich dir einen fröhlichen Mund ins Gesicht!

      John Five erinnerte sich, wie er in einem Wirtshaus getanzt hatte und dabei seinen kleinen, an die Wand geworfenen Schatten sah. Der dürre Mann erhielt von der Kundschaft Münzen, die er in einen braunen Topf warf. Er erinnerte sich, wie der Mann betrunken und fluchend auf einem widerlichen Bett irgendwo in einem kleinen Zimmer gelegen hatte. Er erinnerte sich, wie er zum Schlafen unter das Bett gekrabbelt war, und dass zwei andere Männer in das Zimmer eingebrochen waren und den Betrunkenen mit Knüppeln zu Tode geprügelt hatten. Und er erinnerte sich, wie er, während das Gehirn des Mannes an die Wände und das Blut auf den Boden spritzte, gedacht hatte, dass er das Tanzen nie mochte.

      Bald danach brachte ein fahrender Pfarrer den neunjährigen John ins Waisenhaus und vertraute ihn der Pflege des Leiters Staunton an, der hohe Anforderungen an die Knaben stellte, aber gerecht war. Als Staunton sich jedoch zwei Jahre später auf einen Traum hin berufen fühlte, den Indianern Gottes Wort zu bringen, nahm Eben Ausley seine Stelle ein, der mit dem Ernennungsbrief in der Hand frisch aus dem guten alten England eingetroffen war.

      Die Stadt begann sich jetzt in den Rhythmus eines neuangebrochenen Tages der Geschäftemacherei zu wiegen. Von den Strömungen ihres Leben bewegt wie Fische in den Flüssen zogen Einwohner an den beiden Männern vor Meister Ross' Schmiede vorbei. Matthew schaute auf seine Schuhe hinab und legte sich die Worte sorgsam zurecht, mit denen er sich an John Five wandte. »Als wir das letzte Mal miteinander sprachen, hast du gesagt, du würdest über meine Bitte nachdenken.« Er blickte auf und sah dem jüngeren Mann in die Augen, die er so gut zu lesen verstand wie jedes Buch in seiner Sammlung. Und doch musste er fortfahren. »Hast du das?«

      »Habe ich«, antwortete John.

      »Und?«

      Johns Gesicht verzog sich gequält. Er starrte seine Fingerknöchel an, ballte die Hände und stieß sie gegeneinander, als führte er einen inneren Kampf. Matthew wusste, dass er das tatsächlich tat. Trotzdem musste Matthew darauf beharren: »Du und ich, wir wissen beide, was getan werden muss.«

      Keine Antwort kam. Matthew bohrte weiter: »Er denkt, dass er mit allem davonkommt. Er denkt, dass es niemanden interessiert. Ich hab ihn gestern Abend gesehen, oh ja. Er hat wie ein Verrückter gehöhnt, dass ich dem Richter nichts gesagt habe, weil ich nichts gegen ihn in der Hand hätte. Du weißt ja selbst, dass der Hauptwachtmeister einer seiner Spielerkumpane ist. Ich muss also Beweise haben, John. Ich muss irgendwen haben, der den Mund aufmacht.«

      »Irgendwen«, sagte John mit nur einem Hauch von Bitterkeit in der Stimme.

      »Myles Newell und seine Frau sind nach Boston gezogen«, erinnerte Matthew ihn. »Er war dazu bereit gewesen und kurz davor, aber da er nun fort ist, liegt es an dir.«

      John schwieg, drückte noch immer die Fäuste gegeneinander. Seine Augen hatten sich verdunkelt.

      »Letzten Monat hat Nathan Spencer sich erhängt«, sagte Matthew. »Zwanzig Jahre alt, und trotzdem hat es ihm keine Ruhe gelassen.«

      »Ich weiß, dass Nathan tot ist. Ich war auch auf der Beerdigung. Und ich hab an ihn gedacht – an vielen Tagen. Er ist auch hergekommen und hat geredet, genau wie du. Aber sag mir, Matthew«, jetzt starrte John Five seinem Freund mit Augen ins Gesicht, die gleichzeitig von Qualen erschüttert waren und doch so heiß wie ein Schmiedefeuer brannten, »hat es Nathan keine Ruhe gelassen … oder dir nicht?«

      »Es ging uns beiden so«, sagte Matthew ehrlich.

      John grunzte leise und schaute wieder weg. »Es tut mir leid um Nathan. Er hat sich so viel Mühe gegeben, es zu vergessen. Aber du hast das nicht zugelassen, oder?«

      »Ich hatte keine Ahnung, dass er vorhatte, sich umzubringen.«

      »Vielleicht hatte er das auch nicht, bis du ständig hinter ihm her warst. Hast du dir das mal durch den Kopf gehen lassen?«

      Ehrlich gesagt hatte Matthew das tatsächlich. Es war allerdings etwas, das er von sich weggeschoben hatte. Er konnte es nicht ertragen vor sich zuzugeben, dass seine Bitten an Nathan, vor Richter Powers und Staatsanwalt James Bynes gegen Eben Ausley auszusagen, zu einem über die Sparren der Dachkammer des jungen Mannes geschlungenen Seil geführt hatten.

      »Nathan ging es nicht gut«, sprach John Five weiter. »Im Kopf. Er war schwach. Du als großer Gelehrter hättest das wissen sollen.«

      »Ich kann ihn nicht wieder lebendig machen und du auch nicht«, sagte Matthew heftiger, als er eigentlich wollte – es hörte sich zu sehr an, als lehnte er kurzangebunden jede Verantwortung ab. »Wir müssen da weitermachen, wo wir …«

      »Wir?« John blickte finster drein; eine Drohung, die nicht auf die leichte Schulter zu nehmen war. »Wer ist dieses wir? Ich habe nicht gesagt, dass ich was damit zu tun haben will. Ich hab dir nur beim Reden zugehört, mehr nicht. Weil du jetzt so hochgebildet bist – und ich muss sagen, dass du schön daherreden kannst, Matthew. Aber nur mit Reden kommt man nicht so weit.«

      Wie es seine Gewohnheit war, übernahm Matthew die Initiative. »Das finde ich auch. Es ist Zeit, etwas zu tun

      »Du meinst, Zeit, dass ich meinen Hals auch in eine Schlinge stecke, was?«

      »Nein, das meine ich nicht.«

      »Tja, das würde aber passieren. Erhängen würde ich mich nicht, niemals. Aber mein Leben würde ich ruinieren. Und wofür?« John Five atmete tief ein und schüttelte den Kopf. Als er weitersprach, war seine Stimme leiser und klang fast verzweifelt. »Ausley hat recht. Es interessiert niemanden. Keiner wird irgendwas von dem glauben, was gegen ihn gesagt wird. Er hat zu viele Freunde. Nach dem, was du mir erzählt hast, hat er zu viel Geld an den Spieltischen verloren, um hinter Gitter zu wandern oder aus der Stadt verbannt zu werden. Seine Gläubiger würden sich das nicht gefallen lassen. Und selbst wenn ich den Mund aufmachen sollte – oder wenn irgendwer den Mund aufmachte –, würden sie mich nur einen


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