MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1). Robert Mccammon

MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1) - Robert Mccammon


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Seufzer.

      »Ich hoffe, du findest es heraus. Einen schönen Tag noch, Matthew.«

      »Dir auch einen schönen Tag, John.«

      John Five ging zurück in die Schmiede, und Matthew, dessen Kopf entweder von Enttäuschung oder den Prügeln letzter Nacht wie benebelt war, ging in Richtung New Street davon, dann weiter gen Norden zur Wall Street und Richter Powers Amtsstube im Rathaus. Bevor er dort angelangte, führte sein Weg allerdings noch einmal am Pranger vorbei, in den Ebenezer Grooder zurecht eingeschlossen war. Als Gerichtsdiener hatte Matthew alle Einzelheiten des Falles gehört.

      Ihm fiel auf, dass Grooder Gesellschaft hatte: Neben dem Korb mit fauligen Wurfgeschossen stand ein schlanker Geck in beigefarbenem Anzug und gleichfarbigem Dreispitz. Seine hellblonden, fast schon weißen Haare waren mit einem beigefarbenen Band zum Zopf nach hinten gebunden, und er trug teuer gefertigte, fleischfarbene Stiefel. An die linke Schulter hielt er eine Reitpeitsche gelehnt. Mit schiefgelegtem Kopf musterte er die Zwangslage des Taschendiebs. Noch während Matthew zuschaute, nahm der Mann einen Apfel aus dem Korb und schleuderte ihn Grooder aus einer Distanz von gut sieben Metern ins Gesicht.

      Der Apfel traf Grooders Stirn, wo er beim Auftreffen zerplatzte.

      »Du elender Hurensohn!«, schrie Grooder und ballte die in den Hohlräumen des Prangers gefesselten Fäuste. »Du dreckiger Hundsfott!«

      Schweigend und methodisch wählte der Mann einen weiteren verfaulten Apfel aus und warf ihn Grooder genau in den Mund. Er hatte einen Apfel ausgesucht, der noch etwas fest war, denn nun brüllte Grooder keine Beleidigungen, sondern war damit beschäftigt, das Blut seiner aufgeplatzten Oberlippe auszuspucken.

      Der Mann – wegen seiner zielgenauen Würfe fragte Matthew sich, ob er ein Grenadier war – nahm jetzt einen weiteren Apfel, holte aus, um erneut zu werfen, da Grooder seine profane Stimme wiedergefunden hatte, und erstarrte plötzlich. Er drehte den Kopf und bemerkte, dass Matthew ihn beobachtete. Matthew sah in ein wohlgestaltetes Gesicht, das nach vornehmer Abstammung aussah, wegen der kompletten Ausdruckslosigkeit jedoch gleichzeitig beklemmend wirkte. Obwohl der Mann keinerlei Feindseligkeiten bekundete, hatte Matthew das Gefühl, eine zusammengerollte Schlange zu betrachten, die sich von einer auf einem nahegelegenen Stein gelandeten Grille leicht gestört fühlte.

      Die stechenden grünen Augen des Mannes blieben für einige Sekunden auf ihn gerichtet. Plötzlich, als sei er zu einem Entschluss gekommen, was die von Matthew ausgehende Bedrohung – vielmehr die fehlende Bedrohung durch eine vorbeihüpfende Grille – anging, wandte er sich ab und warf dem Taschendieb den dritten Apfel wieder mit kaltblütiger Kraft ins blutige Maul.

      Grooder gab einen gequälten Laut von sich, vielleicht einen Schrei um Hilfe, der von zerbrochenen Zähnen gedämpft wurde.

      Matthew hatte hier nicht einzugreifen. Immerhin war dies Richter Powers Urteil für Grooder gewesen – dass er tagsüber im Pranger stand und die Bürger ihn auf diese Art bestrafen konnten, wenn sie Lust dazu hatten. Matthew ging weiter, nun schnelleren Schrittes, da viel Arbeit auf ihn wartete. Trotzdem … es war grausam, oder nicht?

      Er warf einen Blick zurück und sah, wie der Mann im beigefarbenen Anzug eilig in entgegengesetzter Richtung die Straße überquerte. Grooder war verstummt. Sein Kopf hing nach vorn und Blut tropfte in eine widerliche kleine Pfütze unter ihm. Seine Hände ballten sich zusammen und öffneten sich wieder, als kämpfte er mit der Luft. Noch ein paar Minuten, dann würden die Fliegen über seinen Mund herfallen.

      Matthew ging weiter. Den anderen Mann hatte er noch nie zuvor gesehen. Vielleicht war er, wie so viele, erst vor Kurzem mit dem Schiff oder der Postkutsche in New York angekommen. Was war an ihm schon Besonderes?

      Irgendetwas. Matthew war aufgefallen, dass die Wurfübungen dem Mann großes Vergnügen bereitet hatten. Was nicht heißen sollte, dass Grooder diese Art der Aufmerksamkeit nicht verdient hatte. Dennoch … er fand es abstoßend.

      Am gelben, zweistöckigen Steingebäude des Rathauses angekommen, trat er durch die hohen Holztüren ein, die die Macht der Regierung versinnbildlichen sollten, und erklomm die breite Treppe in den ersten Stock. Es roch noch nach frisch gehobelten Balken und Sägespänen. Vor der dritten Tür rechts blieb er stehen. Sie war verschlossen. Der Richter war noch nicht da. Matthew ließ sich mit seinem eigenen Schlüssel herein. Jetzt hieß es, alle Gedanken an Ungerechtigkeit, Enttäuschung und Bitterkeit mit ganzer Willenskraft aus seinem Kopf zu verbannen. Denn sein Arbeitstag hatte begonnen, und die Rechtsprechung war eine anspruchsvolle Gebieterin.

      Drei

      Der Pendeluhr zufolge war es sechzehn Minuten nach acht, als Richter Powers die Amtsstube betrat – einen großen Raum mit bleiverkleideten Butzenscheiben, die über den Broad Way hinweg nach Norden Aussicht auf die bewaldeten Hügel gewährten.

      »Morgen, Matthew«, sagte er und befreite sich wie üblich sofort von seinem recht zerknautschten taubengrauen Dreispitz und dem graugestreiften Gehrock, der öfter mit Nadel und Faden Bekanntschaft gemacht hatte als eine Armee von Unterröcken. Wie immer hängte er seine Sachen sorgfältig an zwei Haken neben der Tür auf.

      Und wie immer antwortete Matthew mit: »Guten Morgen, Sir.« Um die Wahrheit zu sagen, hatte er gedankenverloren aus dem Fenster geschaut. Nun hatte er sich zu seinem Pult umgedreht, auf dem vor seiner Flasche hochwertiger indischer Tinte und den Gänsefederkielen zwei Eintragsbücher lagen. Dank der auf den Korridordielen laut hallenden Stiefel und dem Klicken der Türklinke war er schnell genug gewesen, seine Feder in die Tinte zu tauchen und sich der Abschrift des letzten Falls zuzuwenden: Duffey Boggs, des Schweinediebstahls für schuldig befunden und zu fünfundzwanzig Peitschenhieben am Pfosten, sowie dem Brandmal »T« für »thief« auf dem rechten Handrücken verurteilt.

      »So, sind die Briefe fertig?« Powers ging zu seinem eigenen Schreibtisch, der seinem Status entsprechend in der Mitte des Raums stand und wohl doppelt so groß wie Matthews war. Er nahm den Stapel Briefumschläge, mehr als ein Dutzend, die mit dem roten richterlichen Wachssiegel versehen waren und an so verschiedene Adressaten wie einen Stadtbeauftragten eine Treppe tiefer und einen Anwalt auf der anderen Seite des Atlantiks gingen. »Gute Arbeit. Alles sehr sorgfältig.«

      »Danke«, gab Matthew zurück, wie er es immer tat, wenn man ihm dieses Kompliment machte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Schweinedieb zu.

      Richter Powers setzte sich an seinen Schreibtisch, der Matthews gegenüberstand. »Und was steht heute im Terminkalender?«

      »Am Gericht habt Ihr heute nichts zu tun. Um ein Uhr mittags steht ein Termin mit Richter Dawes an, und es wird natürlich erwartet, dass Ihr um drei Lord Cornburys Ansprache beiwohnt.«

      »Ach ja, das.« Er nickte. Sein Gesicht war sehr faltig und sorgenzerfurcht, aber freundlich. Er war vierundfünfzig Jahre alt und verheiratet, hatte drei Kinder: Eine verheiratete Tochter, die selbst Kinder hatte, und zwei Söhne, die weder etwas mit Büchern noch der Rechtsprechung am Hut hatten und sich daher als Arbeiter im Hafen verdingten, wo einer von ihnen zum Vorarbeiter aufgestiegen war. Höchstwahrscheinlich verdienten die beiden mehr als ihr Vater, denn die Gehälter von Beamten lagen nicht höher als die Spürhaare einer Maus. Powers hatte dunkelbraune Haare, die an den Schläfen mit dem Alter grau geworden waren, seine Nase war ebenso gerade wie seine Prinzipien, und seine braunen, einst adlerscharfen Augen verlangten von Zeit zu Zeit nach einer Brille. An der Universität von Cambridge war er in seiner Jugend ein überragender Tennisspieler gewesen und sprach oft davon, wie sehr er den Jubel und Tumult auf den Zuschauerbühnen vermisste. Manchmal meinte Matthew, sich den Richter als jungen, geschmeidigen und gut aussehenden Athleten vorstellen zu können, der die Zurufe der Zuschauer genoss, und manchmal fragte er sich, ob die Tagträume des Mannes ihn in diese alten Zeiten zurückversetzten, in denen seine Knie noch nicht knackten und sein Rücken noch nicht von dem Gewicht eines dringlichen Urteils gebeugt worden war.

      »Edward Hyde ist sein Taufname«, sagte Powers, der Matthews Schweigen als Interesse an dem neuen Gouverneur interpretierte. »Der dritte Earl von Clarendon. Hat Oxford besucht, war ein Mitglied des Royal Regiment of Dragoons und hat als Tory im Parlament gesessen.


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