MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1). Robert Mccammon

MATTHEW CORBETT und die Königin der Verdammten (Band 1) - Robert Mccammon


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      »Ich? Nein, die Ehre ist mir nicht zuteilgeworden. Anscheinend wollen die, die seine Bekanntschaft gemacht haben – auch Hauptwachtmeister Lillehorne –, alle Einzelheiten für sich behalten und es für den Rest von uns spannend machen.« Er begann, den akkurat daliegenden Stapel Papiere durchzugehen, die Matthew ihm zur Durchsicht auf den Tisch gelegt hatte. Auch die Schreibfedern hatte Matthew einsatzbereit hingelegt und einige Bücher der Rechtsprechung, die für die anstehenden Fälle zurate gezogen werden konnten, aus dem Regal zusammengesucht. »Morgen früh hören wir also die Witwe Muckleroy an?«

      »Jawohl, Sir.«

      »Die Barnaby Shears beschuldigt, Bettlaken gestohlen zu haben?«

      »Sie behauptet, dass er die Bettlaken verkauft und mit dem Erlös einen Maulesel erstanden hat.«

      »Na, sein ganzes Haus ist doch keinen Esel wert«, sagte Powers. »Man fragt sich, wie diese Menschen einander finden.«

      »Sicherlich nicht leicht.« Die Witwe Muckleroy wog fast dreihundert Pfund und Shears war ein so dürres Schlitzohr, dass er fast zwischen den Eisenstäben seiner Gefängniszelle hindurchschlüpfen konnte, in der er festgehalten wurde, bis der Fall aufgeklärt war.

      »Und Freitag?«, fragte der Richter, während er seine Notizen durchging.

      »Freitagmorgen um neun beginnt George Knox' letzter Verhandlungstag vor der Urteilsfindung.«

      Powers stieß auf etwas, das er sich dazu aufgeschrieben hatte, und las für ein paar Minuten. Es ging um eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen zwei rivalisierenden Müllern. George Knox hatte Clement Sandford in der Red Bull Tavern in sturzbetrunkenem Zustand eine Flasche Bier auf den Kopf geschlagen und damit für viel Blutverlust und Rangeleien gesorgt, denn die Freunde der Männer fingen im Disput über die Preise und Wirkungsbereiche der beiden eine Massenschlägerei an, die auf die Duke Street hinausquoll.

      »Ich staune immer wieder«, sagte der Richter leise, während er die Fakten durchging. »In dieser Stadt können Huren den Kirchendamen Nähstunden geben, Piraten von Schiffsbauern um ihre Meinung über die Seetauglichkeit von Schiffen gefragt werden, Christen und Juden sonntags gemeinsam spazieren gehen und Indianer sich mit Pionieren auf ein Würfelspiel treffen. Aber sobald eine Silbermünze zwischen zwei Angehörigen des gleichen Berufs in eine Bretterritze fällt, gibt es Mord und Totschlag.« Mit finsterem Blick schob er die Papiere zur Seite. »Seid Ihr es nicht leid, Matthew?«

      »Sir?« Matthew schaute von seiner Schreibarbeit auf. Die Frage erstaunte ihn.

      »Ob Ihr das nicht leid seid«, wiederholte Powers. »Leid wie in elendig müde. Diese ganzen Kleinlichkeiten und niemals enden wollende Haarspalterei.«

      »Nun ja …« Matthew wusste nicht, was er dazu sagen sollte. »Ich finde nicht …«

      »Pah!« Powers winkte ab. »Ihr seid noch ein Jungspund, kein müder Alter wie ich. Aber da kommt Ihr noch hin, wenn Ihr diesen Beruf lange genug ausübt.«

      »Ich hoffe, nicht bloß in meinem Beruf zu bleiben, sondern darin aufzusteigen.«

      »Was? Stunde um Stunde Dokumente übertragen? Mir meine Papiere zurechtlegen? Meine Briefe diktiert zu bekommen? Und eines Tages ein Richter werden? Die brutale Wahrheit ist, dass Ihr dazu in England Jura studieren müsstet – wisst Ihr, wie teuer das ist?«

      »Jawohl, Sir, das weiß ich. Ich bin am Sparen und …«

      »Das wird Jahre dauern«, unterbrach der Richter und starrte ihn unverwandt an. »Und selbst dann müsst Ihr Beziehungen haben. Normalerweise Bekannte, Familienangehörige oder die Kirche. Ist Isaac das nicht alles mit Euch durchgegangen?«

      »Er … hat mir gesagt, dass ich mir noch mehr praktische Fähigkeiten aneignen muss und dass … ich natürlich irgendwann eine Universität besuchen müsste.«

      »Und ich habe keinerlei Zweifel daran, dass Ihr einen ausgezeichneten Studenten und einen ausgezeichneten Richter abgeben würdet, wenn das Euer gewünschtes Berufsziel ist. Aber wann habt Ihr vor, Euch um die Einschreibung zu bemühen?«

      In diesem Moment erlag Matthew etwas, das er später wegen seines Interesses und Talents für das Schachspiel »Hirnschachmatt« taufen sollte: Langsam, wie einem müden Schläfer, der in der Ferne einen Wecker klingeln hört, wurde ihm bewusst, dass seit Isaac Woodwards Tod die Tage, Wochen und Monate miteinander zu einem unförmigen Klumpen Zeit verschmolzen waren. Was ihm zuerst langsam und fast täuschend schleppend vorgekommen war, entpuppte sich plötzlich als das schnelle Ausbluten einer wichtigen Etappe seines Lebens. Und ihm wurde mit einem messerscharfen Stich von Bitterkeit im Magen klar, dass ihn seine Besessenheit, Eben Ausley vor Gericht zu bringen, für seine eigene Zukunft blind gemacht hatte.

      Bewegungslos saß er da, die Feder über dem Papier gezückt, seine präzise Handschrift vor sich. Das leise Ticken der Pendeluhr in der Ecke wirkte furchtbar laut.

      Auch Powers sagte nichts. Er sah Matthew weiter an und bemerkte das Aufblitzen von Bestürzung – Angst, sogar – im Gesicht des jungen Mannes, bevor sich wieder eine falsche Maske der Gefasstheit darüber senkte. Schließlich faltete Powers die Hände und hatte den Anstand wegzuschauen.

      »Ich glaube«, sagte er, »dass Isaac nur einen kurzen Aufenthalt für Euch im Sinn hatte, als er Euch zu mir schickte. Nicht mehr als ein Jahr. Vielleicht hatte er geglaubt, dass Ihr mehr verdienen würdet. Ich glaube, er wollte, dass Ihr nach England geht und dort studiert. Und das könnt Ihr noch, Matthew, Ihr könnt es noch. Aber ich muss Euch warnen, dass es in diesen Universitäten für einen jungen Mann ohne Abstammung unfreundlich hergeht, und die Tatsache, dass Ihr hier geboren und in einem Waisenhaus aufgewachsen seid … Ich bin mir nicht sicher, ob Eure Bewerbung nicht ein Dutzend Male übergangen werden würde, selbst wenn ich Euch Empfehlungsschreiben über Euren Charakter und Eure Fähigkeiten ausstelle.« Er runzelte die Stirn. »Selbst wenn ein Brief von jedem einzelnen Richter dieser Kolonie beiliegen würde. Es gibt zu viele mächtige und reiche Familien, die möchten, dass ihre Söhne Anwälte werden. Nicht Richter für Amerika, versteht Ihr, sondern Anwälte für England. Man verdient mit einer eigenen Anwaltskanzlei wesentlich mehr, als wenn man für das Wohl der Allgemeinheit richtet.«

      Matthew fand seine Stimme wieder, auch wenn sie wie erstickt klang. »Aber was soll ich dann tun?«

      Powers antwortete nicht, dachte jedoch offensichtlich nach. Seine Augen schauten in die weite Ferne und in Gedanken drehte er etwas hin und her, um es aus jedem Blickwinkel zu betrachten.

      Matthew wartete, kam sich vor, als sollte er sich entschuldigen und nach Hause gehen, um sich im Old Admiral vom Rest seines Taschengeldes ein paar Krüge Gesöff zu gönnen. Aber was würde eine betrunkene Flucht vor der Realität nutzen?

      »Ihr könntet immer noch nach England gehen«, sagte der Richter schließlich. »Ihr könntet einem Kapitän eine kleine Summe bezahlen und auf dem Schiff arbeiten. Da kann ich Euch behilflich sein. Vielleicht würdet Ihr in einer Kanzlei in London Anstellung finden und nach einer Weile könnte Euch möglicherweise jemand mit mehr politischem Einfluss als ich einen Studienplatz an einer guten Universität beschaffen. Wenn Ihr das wirklich wollt, meine ich.«

      »Natürlich will ich das! Warum sollte ich das nicht?«

      »Weil … es vielleicht noch etwas Besseres für Euch geben könnte«, gab Powers zurück.

      »Etwas Besseres?«, fragte Matthew ungläubig. »Was könnte denn besser sein als das?« Er erinnerte sich an seinen Stand. »Sir, wollte ich sagen.«

      »Eine Zukunft. Jenseits der Schweinediebe und des in den Straßen kämpfenden Pöbels. Schaut Euch die Fälle an, die wir gemeinsam angehört haben, Matthew. Stechen davon einige besonders heraus?«

      Matthew zögerte. Grübelte. Bei den meisten Fällen handelte es sich tatsächlich um kleinere Diebstähle oder Kleinverbrechen wie Sachbeschädigung und üble Nachrede. Die einzigen beiden Fälle, die ihn nicht losgelassen und seinen Verstand zum Arbeiten gebracht hatten, waren der Mord am »Blauen Bettler« gewesen, gleich im ersten Jahr, als er in New York angekommen war, und dann


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