Gertrudas Versprechen. Ram Oren
n>
Ram Oren
Gertrudas Versprechen
Eine mutige Frau und ein jüdisches Kind: Die Geschichte einer dramatischen Rettung
In Zusammenarbeit mit Michael Stolowitzky
Die hebräische Originalausgabe erschien in Israel unter dem Titel
„Shevu’ah“ bei Keshet Publishing, Tel Aviv 2007,
Copyright © Keshet Publishing
Copyright der amerikanischen Ausgabe © 2009 Doubleday
This translation to German published by arrangement with
Doubleday Religion, an imprint of The Crown Publishing Group,
a division of Random House, Inc.
Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Evelyn Reuter.
Zum Schutz der Privatsphäre wurden die Namen bestimmter Personen geändert.
Basiert auf der 3. Auflage 2011
© der deutschen Ausgabe
Brunnen Verlag GmbH, Gießen 2010
www.brunnen-verlag.de Umschlagfoto: privat; mit freundlicher Genehmigung von Michael Stolowitzky Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger Fotos im Innenteil: privat Satz: Die Feder GmbH, Wetzlar ISBN Buch 978-3-7655-2006-8 ISBN E-Book 978-3-7655-7309-5
Inhalt
Vorbemerkung des Autors
Dieses Buch ist eine wahre Geschichte. Alle darin beschriebenen Ereignisse basieren auf meinen Interviews mit Überlebenden des Holocaust und deren Angehörigen sowie auf Zeitdokumenten und den von mir durchgeführten Recherchen. Da sich der Inhalt zu einem großen Teil auf die Erinnerungen der Hauptpersonen stützt (von denen viele, einschließlich Gertruda, inzwischen verstorben sind), war es für mich als Autor jedoch notwendig, meine schriftstellerische Freiheit zu nutzen, um die Erzählung durch Dialoge und Einzelheiten bestimmter Begebenheiten zu ergänzen. Das Schicksal von Michael und Gertruda – und von allen, die den Holocaust hautnah erlebt haben – ist ein bewegendes Zeitzeugnis, und ich habe versucht, mich so genau wie möglich an die historischen Tatsachen zu halten.
Nach dem großen Krieg
Die Rauchwolken des Krieges lösten sich nur langsam auf. Zaghaft brach die Frühlingssonne durch und strich über die Ruinen, die Zehntausende von Menschen unter sich begraben hatten, tauchte verwüstete Straßenzüge in ein mildes Licht und ließ glitzernde Punkte auf den Wassern der Weichsel tanzen, deren träge Strömung die Erinnerung an Tod und Schrecken mit sich forttrug.
Auf einer Anhöhe im zerbombten Warschau stand das ehrwürdige alte Palais der Familie Stolowitzky. Wie durch ein Wunder hatte es den Krieg unbeschädigt überstanden. Ein Kunstwerk aus vier Stockwerken behauener Steine und fein gemeißelter Kanten, mit prächtigen Bleiglasfenstern und Deckenmalereien, von dessen Dachvorsprüngen die Statuen alter Kämpfer grüßten.
Nur zwei der ehemaligen Bewohner waren noch am Leben, ein Junge und seine Kinderfrau – Flüchtlinge in einem fernen Land. In ihrem neuen Zuhause in Israel, zwischen blätternden Tapeten, billigen Möbeln und Rostflecken in der Badewanne, schien das große, herrschaftliche Haus wie ein Tagtraum, wie ein Bild aus einer allzu lebhaften Fantasie.
Die beiden lebten in einer der düsteren Mietskasernen in einer Seitenstraße in Jaffa. Aus den Fenstern ihrer kleinen Wohnung blickten sie auf graue, trostlose Häuser. Kinder spielten in einem verlassenen Hinterhof, Frauen kamen vom Markt nach Hause, beladen mit schweren Einkaufstaschen. Tag und Nacht drang der Lärm vorbeifahrender Autos in die Wohnung. In der Luft lag ein fauliger Abfallgestank. Im Winter roch es in den feuchtkalten Räumen nach Schimmel, im Sommer staute sich die heiße, stickige Luft zwischen den Wänden.
Wie anders war es in dem Palais gewesen. Da hatte es geräumige Seitenflügel und weitläufige Gartenanlagen gegeben, eine warme Heizung im Winter. Im Sommer hatte durch die geöffneten Fenster eine frische Brise vom Fluss heraufgeweht. Dienstboten waren auf Zehenspitzen durchs Haus gehuscht, um unnötigen Lärm zu vermeiden. In den Schränken hatten teure Kleider gehangen, und die erlesenen Mahlzeiten waren in feinen Porzellangefäßen serviert worden. Das schwere goldene Besteck war auf Hochglanz poliert gewesen, und in edlen Kristallgläsern hatte der vollmundige Wein geschimmert.
Michael Stolowitzky und Gertruda, die Kinderfrau, die ihn als ihren eigenen Sohn angenommen hatte, hatten den Krieg überlebt. Nun kämpften sie den Überlebenskampf in einem fremden Land. Michael ging zur Schule, während Gertruda jeden Morgen in Jaffas nördliche Bezirke fuhr, wo sie als Putzhilfe für sich und Michael ihren Lebensunterhalt verdiente – keine leichte Arbeit für eine Frau, welche die Blüte der Jugend bereits hinter sich gelassen hatte. Abends kehrte sie müde und mit schmerzenden Gliedern zurück. Michael begrüßte sie immer mit einem Kuss, zog ihr die Straßenschuhe aus, kochte eine bescheidene Mahlzeit und schlug ihr Bett auf. Er wusste, dass sie nur seinetwillen so hart arbeitete. Sie wollte, dass er eine gute Schulbildung bekam, es sollte ihm an nichts fehlen. Und er schwor sich, dass er ihr eines Tages tausendmal vergelten würde, was sie für ihn getan hatte. Sie hatte ihn vor dem sicheren Tod bewahrt, ihm das Leben zum zweiten Mal geschenkt. Immer war sie für ihn da gewesen, tröstend und beschützend wie ein gütiger Engel.
Während des Krieges waren Armut und Not Michael Stolowitzkys ständige Wegbegleiter gewesen. Endlich, nach all den Jahren des Leids, sah er jetzt Licht am Ende des Tunnels. Bald würde dieses entbehrungsreiche Leben der Vergangenheit