Gertrudas Versprechen. Ram Oren
Eine glückliche, unbeschwerte Zukunft lag in greifbarer Nähe. Nicht mehr als vier Flugstunden trennten ihn von einem Schatz, der nur darauf wartete, von ihm gehoben zu werden: Millionen von Dollars auf den Konten und Goldbarren in den Tresoren von Schweizer Banken – das Vermögen seines verstorbenen Vaters, Jacob Stolowitzky, bekannt als „der Rockefeller von Polen“. Michael war sein einziger Erbe.
Das Erbe seines Vaters schien ihm eine gerechte Entschädigung für die furchtbaren Kriegsjahre. Es wurde zum Zentrum seines Denkens, Gegenstand seiner Tagträume. Während seiner Zeit bei der israelischen Armee fieberte er ungeduldig seiner Entlassung entgegen, um endlich seinen Plan zu verwirklichen.
Als junger Soldat wurde er einer Gefechtseinheit zugeteilt und von der Kugel eines syrischen Heckenschützen verwundet. Sie traf ihn bei einem Schusswechsel nördlich des Sees Genezareth ins Bein. Man brachte ihn, stöhnend vor Schmerzen, ins Krankenhaus von Poriya. Als er nach der Operation aus der Narkose erwachte, sah er seine Adoptivmutter an seinem Bett sitzen und streckte seine schwache Hand nach ihr aus.
„Weine nicht“, sagte sie und drückte seine Hand an ihr Herz, „es wird alles gut, das verspreche ich dir.“
Nach seiner Militärzeit kehrte er nach Hause in ihre bescheidene Wohnung zurück. Gleich am nächsten Tag machte er sich auf die Suche nach einem Job. Für keine Arbeit war er sich zu schade. Tagsüber flitzte er als Eilbote mit seinem Motorroller durch Jaffa-Tel Aviv, abends kellnerte er und arbeitete als Nachtwächter bei einer Textilfirma. Er wollte so viel wie möglich verdienen, so viel Geld wie möglich sparen.
Zwei Jahre später, im Juni 1958, kratzte er alle Ersparnisse zusammen und buchte einen Flug nach Zürich. Im Koffer verstaute er die verbliebenen Familiendokumente.
„Wie lange wirst du fortbleiben?“, fragte Gertruda besorgt.
„Zwei bis drei Tage vielleicht. Länger sollte es nicht dauern.“
„Und wenn sie dir das Geld nicht geben?“
„Warum sollten sie nicht?“ Er lächelte sie zuversichtlich an. „Ich bin bald wieder da“, versprach er. „Und wenn ich wiederkomme, bin ich ein reicher Mann. Dann ändert sich unser Leben.“
Sie begleitete ihn noch zum Flughafen und drückte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. „Pass auf dich auf“, sagte sie. „Und gib gut auf das Geld acht – damit es dir nicht abhandenkommt.“
„Mach dir keine Sorgen“, antwortete er.
Aufgeregt und voll freudiger Erwartung ging er an Bord. In Zürich mietete er ein kleines Zimmer und lag die ganze Nacht wach. Er wusste nur den Namen einer Bank unter mehreren, bei denen sein Vater sein Vermögen angelegt hatte. Diese Bank suchte er am nächsten Tag auf. Unterwegs sah er vor seinem inneren Auge, wie die Bankangestellten ihm kofferweise Geldscheine aushändigten und wie er damit, reich und sorgenfrei, nach Israel zurückreiste. Er sah seine Adoptivmutter, wie sie ihn mit ausgebreiteten Armen begrüßte, und er hörte sich sagen: „Wir haben es geschafft, Gertruda, wir sind reich! Jetzt wohnen wir bald in unserem eigenen Haus, kaufen uns alles, was wir wollen – und das Wichtigste: Du musst nie wieder arbeiten!“
Sie würde ihn in die Arme schließen und sagen, was sie immer sagte: „Mein lieber Junge. Ich brauche kein Geld. Alles, was ich brauche, bist du.“
Zwei Hochzeiten
1.
Graf Stefan Roswadowsky stürzte wütend ein weiteres Glas Brandy herunter. Er war ein dickbäuchiger, rotgesichtiger Mann, auf dessen Militäruniform die Orden seiner Vorväter prangten. Seine zweiundsiebzig Lebensjahre glichen einer nie endenden Vergnügungsreise. Unter seinem breiten Kiefer hing ein rosa Doppelkinn wie ein fetter Kloß, das wie der übrige Körper durch die Jahre des ausschweifenden Lebens an Fülle zugenommen hatte.
Draußen knirschten Wagenräder auf dem Kiesweg und kündigten die Kutsche an. Ein Anflug von Übelkeit stieg wie eine böse Vorahnung in ihm auf. Er würde alles darum geben, um die folgende Begegnung zu vermeiden.
Die düsteren, bleiernen Wolken über Warschau passten zu seiner Stimmung. Ein dünner, bindfadenartiger Regen fiel kaum hörbar auf die gepflegten Gartenanlagen des herrschaftlichen Hauses in der Ujazdowska-Allee 9, als die Kutsche vor dem Eingang hielt. Der Kutscher sprang vom Bock und öffnete dem Fahrgast die Tür. Ein Mann um die vierzig in einem eleganten Wollmantel stieg aus. Er war groß und schlank, hatte einen selbstsicheren, entschlossenen Zug um den Mund und ging geschmeidigen Schrittes auf das Haus zu. Der Kutscher hielt ihm einen Regenschirm über den Kopf und geleitete ihn zur Tür. Von seinem Fenster aus beobachtete der Graf die Szene mit wachsendem Unbehagen. Jeden Augenblick würde der Gast seinen Fuß über die Schwelle setzen und damit die Familienehre der Roswadowskys und seine eigene Ehre unwiederbringlich zerstören.
Ein Dienstbote in schwarzer Livree bat den Gast mit ausdrucksloser Miene ins Haus und nahm ihm den Mantel ab.
„Wenn der Herr bitte warten möchten“, sagte er in unterwürfigem Tonfall, „ich werde Graf Roswadowsky von Ihrer Ankunft unterrichten.“
Leise öffnete der Hausdiener die Tür zu Roswadowskys Arbeitszimmer und machte eine tiefe Verbeugung. „Euer Gnaden“, kündigte er an, „Herr Stolowitzky ist da.“
Der Graf zögerte. „Es schadet dem Juden nicht, wenn er ein bisschen warten muss“, brummte er unwillig. Er brauchte noch etwas Zeit, um sich für die bevorstehende Unterredung zu wappnen.
Seufzend sank der Graf tiefer in seinen Sessel. Von den mit Samt bezogenen Wänden schauten seine Vorfahren auf ihn herab, ordensschwere Offiziere mit Schwertern, hoch zu Ross auf edlen Pferden mit wallenden Mähnen und schimmerndem Fell. Daneben prangten in Goldrahmen die Porträts ihrer schönen, üppigen Frauen in prunkvollen Gewändern, geschmückt mit Gold, Diamanten und anderen wertvollen Juwelen. Perserteppiche, von ausgesuchten Künstlern im Schweiße ihres Angesichts in den Kellern von Isfahan und Shiraz gewoben, zierten die Wände, und die Möbelstücke in dem großzügigen Zimmer hätten einem Königsschloss alle Ehre gemacht.
Der alte Graf rutschte unbehaglich hin und her, zupfte nervös an seinem gepflegten Schnurrbart und bemühte sich um Haltung. Um jeden Preis wollte er seine Unsicherheit und seinen Abscheu vor dem Treffen mit dem Besucher verbergen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass eines Tages er, der aus einer polnischen Adelsfamilie stammte, der ausgedehnte Ländereien und wertvolle Kunstgegenstände besaß und von dessen Gunst Hunderte von Pächtern abhängig waren, sich in einer solch peinlichen, erniedrigenden Lage befinden würde. Das erschütterte seine Vorstellung von der Ordnung der Welt bis in die Grundfesten.
In der Familie des Grafen Roswadowsky spielten Ehre und gesellschaftliche Stellung eine große Rolle. Roswadowsky wusste, wie seine Vorfahren gehandelt hätten, hätte ein Jude es gewagt, seinen Fuß in ihr Haus zu setzen. Ohne zu zögern hätten sie ihn hinausgeworfen, vielleicht sogar mit Schlägen vor die Tür gejagt, wie es sich für einen gehörte, der sich erdreistete, ihre Notlage auszunutzen.
Niemals zuvor hatte jemand aus der Familie Roswadowsky es mit einem Juden zu tun gehabt wie diesem, der nun draußen in der Vorhalle wartete. In Baranowicz im Osten Polens, wo die Familie zahlreiche Gutshöfe und Ländereien besaß, verneigten sich die Juden voller Ehrfurcht, wenn die Kutsche des Grafen vorbeifuhr, und wagten nicht, ihre Augen zu heben. Wo waren diese Zeiten geblieben? Wo war seine Autorität? Wie konnte es geschehen, dass ein Jude es wagte, dieses prachtvolle Warschauer Anwesen zu betreten? Es war eines der vielen Herrschaftshäuser in ganz Polen, die sich im Besitz der Familie befanden. Und nun kam dieser Jude ins Haus, nicht etwa, um einen Gefallen zu erbitten, sondern weil er, der Graf, ihn zu sich gebeten hatte, damit er ihm aus einer Notlage half.
Juden wie Moshe Stolowitzky waren dem Grafen Roswadowsky fremd. Stolowitzkys Leben war von Wohlstand und Einfluss geprägt, und es gab nicht viele Männer in Polen, die es mit seinem Reichtum aufnehmen konnten. Einen Großteil seines Vermögens hatte er von seinem Vater geerbt, einem geschickten Geschäftsmann, der vor dem Ersten Weltkrieg mit der Produktion und dem Verkauf