Gertrudas Versprechen. Ram Oren
erhob seine Stimme. „Es besteht keinerlei Grund zur Panik.“
3.
Der 28. Juni 1924 war ein strahlender, heißer Sommertag. Die Warschauer Bürger flanierten durch die Grünanlagen, die das Flussufer säumten. An jenem Nachmittag stellte Jacob Stolowitzky seinen Eltern seine Verlobte Lydia vor. Er war damals zweiundzwanzig und seine zukünftige Braut war zwanzig Jahre jung, ein schlankes, hübsches Mädchen, Tochter eines jüdischen Offiziers aus Krakau, die in Warschau Politikwissenschaften studierte. Sie hatten sich auf einem Fest bei gemeinsamen Freunden kennengelernt, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Hava und Moshe Stolowitzky empfingen die Verlobte ihres Sohnes im Festsaal ihres Palais und unterhielten sich mit ihr über ihre Familie und über ihr Studium. Sie fanden die junge Frau sehr sympathisch und sahen geflissentlich darüber hinweg, dass ihre Eltern weniger begütert waren als sie selbst. Sie war Jüdin und ihr Sohn liebte sie, alles andere würde sich finden. Bei dem festlichen Bankett, das sie für Lydia und ihre Eltern gaben, tranken die Gäste auf das junge Paar, und noch am selben Abend wurde das Hochzeitsdatum verkündet.
Drei Monate später war die gesamte Elite Warschaus Zeuge einer unvergesslichen Zeremonie. Mitglieder der Regierung, Führungspersönlichkeiten aus der Wirtschaft, Großindustrielle, Künstler und Intellektuelle strömten in das herrschaftliche Haus und gratulierten dem frisch vermählten Paar und den glücklichen Eltern. Dutzende von Hausangestellten reichten Tabletts mit erlesenen Köstlichkeiten herum und schenkten Champagner nach. Das Orchester spielte, bis der letzte Gast gegangen war.
Das junge Paar verbrachte die Flitterwochen in der Schweiz. Als Jacob und Lydia nach Warschau zurückkehrten, überraschte Moshe Stolowitzky sie mit dem Vorschlag, ebenfalls in dem großzügigen Palais zu wohnen. Die Jungvermählten willigten gerne ein, und Moshe stellte ihnen einen geräumigen Seitenflügel zur Verfügung.
Jacob und Lydia fanden in dem großen Haus allen Komfort, den sie sich wünschen konnten. Lydia kümmerte sich um die Inneneinrichtung und ließ Möbel aus Italien kommen. Sie beaufsichtigte die Angestellten in ihrem Flügel – eine Haushälterin, einen Koch, zwei Putzfrauen und einen Chauffeur. Jacob bekam einen leitenden Posten in der Firma seines Vaters, und die Geschäfte florierten wie nie zuvor. Er reiste geschäftlich durch ganz Europa, unterzeichnete Verträge mit verschiedenen Staaten und verdiente gutes Geld.
Mehr als alles andere wünschten sich die beiden ein Kind. Lydia träumte davon, dass ihr Sohn einmal Arzt werden würde, Jacob dagegen wünschte sich, dass er in seine Fußstapfen treten, später die Firma übernehmen und somit eines Tages das Stolowitzky-Imperium erben würde. Obwohl sie darin unterschiedlicher Meinung waren, waren sie sich in den meisten Dingen einig und glaubten, dass ihnen eine herrliche, sorgenfreie Zukunft beschieden war, in der ihr Kind stets auf Rosen gebettet sein würde.
Sie sollten sich irren.
4.
Karl Rink hatte schon immer mehr vom Leben erwartet. Er war Junggeselle, vierundzwanzig Jahre alt, mit blauen Augen und kurz geschorenem Haar und arbeitete als Buchhalter bei dem Chemieunternehmen I.G. Farben in Berlin. Sein mageres Gehalt reichte kaum aus, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Sein Büro war klein und dunkel und seine Arbeit langweilte ihn. Karl träumte von einer anderen Karriere, von einem Beruf, der lukrativer und interessanter war und in dem er wirklich erfolgreich sein konnte. Hin und wieder nahm er einen Anlauf und machte sich auf die Suche nach einer neuen Arbeit, doch die einzigen Stellen, für die er qualifiziert zu sein schien, waren in der Buchhaltung. Sehr schnell hatte er begriffen, dass sich Hunderte von Bewerbern auf die interessanten Stellenangebote stürzten, darunter viele, die besser und qualifizierter waren als er. Mit der Zeit hatte er nur noch wenig Hoffnung, dass sich jemals etwas ändern würde.
Der einzige Ausgleich zu seinem eintönigen Alltag war der Sport. Rink war ein ausgezeichneter Radrennfahrer – hier konnte er sein echtes Talent zeigen. Er gehörte dem firmeneigenen Sportverein an, trainierte jedes Wochenende und bei jedem Wetter, quälte sich im Gebirge auf steilen Pfaden bergan. Im Regal seiner kleinen Wohnung reihten sich die Pokale. Darüber hing in einem Rahmen ein Artikel aus einer Lokalzeitung über seinen Sieg in einem regionalen Radrennen.
Am 12. September 1924 hatte er es besonders eilig, nach der Arbeit nach Hause zu kommen. In seiner Einzimmerwohnung in einer trostlosen Arbeitersiedlung im Berliner Westen zog er seinen dunklen Anzug an, band sich eine Krawatte um und holte seine Eltern ab, die in einem entfernten Vorort wohnten. Mit dem Bus fuhren sie zu dritt zum Standesamt, wo Mira, ihre Eltern und eine Handvoll Freunde schon auf sie warteten.
Mira, ein Mädchen von einundzwanzig Jahren mit dunklem Haar, heller Haut und molliger Figur, war beim Justizministerium in der Abteilung für Testamente als Bürokraft beschäftigt. Arm in Arm stand sie mit Karl in ihrem weißen Kleid vor dem Standesbeamten, der ihre Trauung vollzog.
Dass Mira Jüdin war, stand ihrer Liebe nicht im Wege. Karls Eltern – sein Vater war Lastwagenfahrer und seine Mutter Hausfrau – kümmerten sich nicht um kulturelle oder religiöse Unterschiede und liebten Mira wie eine Tochter. Miras Eltern besaßen ein Lebensmittelgeschäft und lebten streng nach den jüdischen Gesetzen und Bräuchen. Auch wenn Ehen zwischen Juden und Christen in Berlin keine Seltenheit waren, hatten sich Miras Eltern entschieden gegen eine Verbindung mit einem Nicht-Juden ausgesprochen. Karl und Mira hatte lange Zeit versucht, mit ihnen zu reden und sie umzustimmen. Und Mira hatte so lange gebeten, ihren Verlobten heiraten zu dürfen, bis ihre Eltern sich geschlagen gaben.
Das junge Paar bekam ein paar wenige Hochzeitsgeschenke, vorwiegend Gläser und Porzellan. Karls Kollegen hatten eine kleine Summe gesammelt, und sein Chef überreichte ihm einen Umschlag mit einem Wochenlohn. Die Eltern des Hochzeitspaares gaben einen bescheidenen Empfang und schenkten den Frischvermählten ein Doppelbett.
Verliebt und glücklich verbrachten Mira und Karl ihre zweitägige Hochzeitsreise in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Mit dem Rad fuhren sie auf verschlungenen Wegen durch die Wälder, aßen Blutwurst und tanzten bis in die frühen Morgenstunden zur Musik einer einheimischen Kapelle in einem örtlichen Gasthof. Wieder in Berlin, zog Mira in Karls Wohnung ein, und als das Jahr zu Ende ging, wurde ihre Tochter Helga geboren. Die stolzen Eltern standen stundenlang vor der Wiege und konnten sich nicht sattsehen an dem kleinen Wesen.
Ihr Leben war ruhig und beschaulich. Sie liebten einander und ihre kleine Tochter und spazierten gern an warmen Wochenenden mit dem Kinderwagen durch den Park. Mira wurde im Justizministerium befördert, und Karl gab die Hoffnung nicht auf, eines Tages endlich seine Traumstelle zu finden. Beide blickten sie der Zukunft zuversichtlich entgegen und freuten sich auf ein Leben voll Glück, Wohlstand und beruflicher Erfüllung.
Sie sollten sich irren.
Das Kind
1.
Im Frühling des Jahres 1931, als der Winter sich mit Regen und Schneeschauern verabschiedet hatte und die ersten warmen Sonnenstrahlen zaghaft durch die Wolken brachen, wurde Karl Rink in die Zentrale der nationalsozialistischen Partei geladen. Er wusste, dass der Sportverein seiner Firma, wie viele andere Sportvereine, unter der Schirmherrschaft der SS stand – der „Schutzstaffel“, einer Eliteeinheit der Partei. Die SS war berüchtigt für ihre Disziplin und ihre strengen, brutalen Methoden. Karl hatte sich nie besonders für Politik interessiert. Alles, was er wollte, war Rad fahren, Rennen gewinnen, neue Rekorde aufstellen und eines Tages eine bessere Arbeit finden. Die Nationalsozialisten interessierten ihn nur in einer einzigen Hinsicht: Sie pumpten Geld in den Sportverein, förderten die Sportler und stifteten Preise und Pokale. Er war noch nie zuvor in der Parteizentrale gewesen und neugierig auf das bevorstehende Treffen.
Ein stämmiger Mann in SS-Uniform begrüßte ihn mit einem festen Händedruck und stellte sich als Sportbeauftragter der Partei vor. Mit einem gewinnenden Lächeln überreichte er Karl einen Silberpokal als Anerkennung für seine Leistungen im Radrennsport im vergangenen Jahr mit den Worten: „Machen Sie weiter so, Rink. Die Partei schätzt Männer wie Sie.“
Karl