Gertrudas Versprechen. Ram Oren
Immobiliengeschäfte. Als Baranowicz im Ersten Weltkrieg an die Russen fiel, flohen viele Einwohner nach Warschau. Moshe Stolowitzky gelang es, den größten Teil seines Vermögens zu retten.
Graf Roswadowsky hatte weniger Glück gehabt. Er floh bei Nacht und Nebel und musste einen Großteil seines Besitzes zurücklassen. Unterschlupf fand er in seinem Palais in Warschau. Bald jedoch wurde das Geld knapp, sein Schuldenberg wuchs immer höher und die Gläubiger wurden immer ungeduldiger. Er wusste, es gab nur noch den einen schmerzvollen Ausweg: Er musste Häuser und Ländereien verkaufen. Käufer kamen und gingen. Manche wollten seine Notlage schamlos ausnutzen und versuchten, gnadenlos den Preis zu drücken. Andere boten angemessene Preise, die jedoch immer noch nicht hoch genug waren. Bis eines Tages Moshe Stolowitzky auf der Bildfläche erschien und ein gutes Angebot machte.
Der Diener kam nach ein paar Minuten zurück. „Herr Stolowitzky ist in Eile“, meldete er, „er sagt, er könne nicht länger warten.“
Der Graf schnaubte verächtlich. „Der Jude hat vielleicht Nerven“, brummte er ungehalten.
Der Dienstbote blieb stumm stehen und wartete auf weitere Anweisungen.
Roswadowsky schluckte seinen Widerwillen herunter. „Na schön, er soll reinkommen.“
Kurz darauf stand Moshe Stolowitzky in der Tür und blickte den Grafen respektlos an. Er war sich seiner überlegenen Position bewusst. Daher nahm er sich keine Zeit, um Nettigkeiten auszutauschen, sondern kam gleich auf das Geschäftliche zu sprechen, was Roswadowsky missfiel. Der Gast war ein harter Verhandlungspartner, und in der darauffolgenden Stunde verkaufte ihm der Graf mehrere Häuser und Ländereien in Baranowicz und überschrieb ihm das Anwesen in Warschau. Wie immer, wenn er in Geldnot war, war die Familienehre plötzlich zweitrangig. Er schluckte seine verletzten Gefühle hinunter und unterschrieb schweren Herzens die Kaufverträge.
Es fiel ihm nicht leicht, sich von seinem Besitz zu trennen – schon gar nicht von dem Warschauer Herrschaftshaus mit den wertvollen Möbeln und Kunstgegenständen, das sein ganzer Stolz gewesen war. Es schmerzte ihn, all das aufgeben zu müssen: ein Heer von Dienstboten, eine mit Delikatessen aus aller Welt gefüllte Speisekammer, einen Weinkeller mit erstklassigen Weinen. Und dann die festlichen Bankette, bei denen reiche Geschäftsleute und alles, was in Polen Rang und Namen hatte, zu Gast gewesen waren. Und all das nur, um einen skandalösen Privatkonkurs zu vermeiden.
Das Palais der Familie Stolowitzky, Warschau
Seine junge Geliebte, eine schwarzhaarige Schönheit und Tochter eines seiner Pächter, die ebenfalls in dem Palais in Warschau lebte und seine Besuche dort noch angenehmer machte, weinte bitterlich, als sie ihre Sachen packen musste. Der Graf stand hilflos daneben.
„Was wird nun aus mir? Und was wird aus uns?“, schluchzte sie.
Der Graf strich ihr übers Haar und blinzelte eine Träne aus den Augenwinkeln weg. Er hatte keine Antwort.
Moshe Stolowitzky verließ das Haus mit dem Gefühl, ein hervorragendes Geschäft gemacht zu haben. Er war als erfahrener Geschäftsmann bekannt. Sein scharfer Verstand und seine Zielstrebigkeit ebneten ihm den Weg in die obersten Etagen der Regierungsbehörden, und schon bald war er der Vertragspartner im Eisenbahngeschäft. Er beschäftigte Hunderte von Arbeitern, die Schienen durch ganz Polen und später durch ganz Russland verlegten. Antisemitische Äußerungen prallten an ihm ab, denn er wusste, dass kein Judenhasser es wagen würde, ihm ein Haar zu krümmen. Bei festlichen Anlässen lud er Regierungsvertreter und die übrige Elite Polens ein und war auch in ihren Häusern ein gern gesehener Gast.
Graf Roswadowsky erbat sich eine Frist von einer Woche, um aus seinem Warschauer Palais auszuziehen. Nachdem der letzte Möbelwagen das Gelände für immer verlassen hatte, zog Moshe Stolowitzky mit seiner Frau Hava und ihrem kleinen Sohn Jacob ein.
2.
Moshe Stolowitzky war nicht nur reich, sondern auch stolz auf seine jüdischen Wurzeln. Regelmäßig las er die jiddische Tageszeitung, Dos Yidishe Tageblat, und besuchte gemeinsam mit seiner Frau das von dem Schauspieler Zigmund Turkow gegründete jüdische Theater „Wikt“. Ferner hatte er in den jiddischen Film „Jiddl mitn Fiddl“ investiert, der weltweit zum jüdischen Kinohit wurde. Er unterstützte jüdische Schriftsteller sowie jüdische Schulen und Jeschiwas (Talmudschulen, an denen sich männliche Schüler dem Studium der überlieferten Auslegung des Alten Testaments widmen; d. Übers.). Jeden Freitag ließ er für das Sabbatmahl Lebensmittelkörbe für die Armen in die Stadt bringen, und in seinem Haus hatte er – wie es bei vielen wohlhabenden Juden üblich war – eine kleine Schachtel mit Bargeld für die Bettler, die täglich an seine Tür klopften.
Jacob, sein einziger Sohn, sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten. Moshe beschäftigte mehrere Hauslehrer, die Jacob in Hebräisch und Naturwissenschaften unterrichteten, abonnierte für ihn die hebräische Kinderzeitschrift Olam Katan (Kleine Welt) und war glücklich, als Jacob Geschichten über die Chassidim – besonders fromme Juden – und die heiligen Stätten des Gelobten Landes zu lesen begann.
An einem stürmischen Winterabend saß Moshe Stolowitzky in der ersten Reihe des Novoschi-Auditoriums, wo sich etwa dreitausend Juden versammelt hatten, um den Zionisten Zeev Jabotinsky sprechen zu hören. Der kleine Mann mit der intellektuellen Brille und dem ernsten Gesicht rief in seiner Rede leidenschaftlich dazu auf, nach Israel auszuwandern, bevor die Juden aus Europa vertrieben würden. Obwohl Moshe Stolowitzky ein Bewunderer Jabotinskys und seiner Bücher war, hielt er dessen Theorie der lauernden Gefahr für die europäischen Juden für reichlich übertrieben. Wie die meisten ihrer Freunde betrachteten die Stolowitzkys Polen als ihre Heimat und waren dankbar für den Wohlstand, zu dem sie es dort gebracht hatten. Sie führten ein gutes, angenehmes Leben und dachten nicht im Traum daran, dass ihnen schwere Zeiten bevorstehen könnten, wie Jabotinsky es in seiner düsteren Prophezeiung voraussagte.
Doch es dauerte nicht lange, bis Moshe Stolowitzky am eigenen Leib erfuhr, dass ein weiteres Leben in Wohlstand und Sicherheit eine trügerische Illusion war. Es war an einem Freitagabend, und der jüdische Millionär saß auf seinem gepolsterten Stuhl gegenüber der Nachbildung der Bundeslade in der Tlomackie-Synagoge, der größten und ältesten Synagoge Warschaus. Andächtig lauschte er den Gesängen des berühmten Kantors Moshe Koussevitzky, und als der Gottesdienst vorüber war, verließ er die Synagoge gemeinsam mit einer Gruppe von Gläubigen. Seine Kutsche stand schon bereit. Zu Hause wartete seine Familie mit dem traditionellen Sabbatmahl.
Aber Stolowitzky kam nicht weit. Eine Horde jugendlicher Antisemiten umzingelte die Gläubigen, warf mit Steinen und beschimpfte sie in übelster Weise. Die Juden erstarrten vor Schreck und wussten nicht, wie ihnen geschah. Die meisten von ihnen waren in der Vergangenheit schon Zeugen antisemitischer Übergriffe gewesen, doch niemals derart gezielter und brutaler. Als die Angreifer versuchten, ihnen die Gebetsschals zu entreißen, wehrten sich die Opfer. Bald war eine Schlägerei im Gang, die erst ein Ende nahm, als die Polizei einschritt und Recht und Ordnung wiederherstellte.
Zerschrammt und mit zerrissenen Kleidern fuhr Moshe Stolowitzky nach Hause. Der Vorfall an sich beunruhigte ihn nicht allzu sehr. Er zog es vor zu glauben, dass vereinzelte Übergriffe auf Juden noch lange kein Beweis für eine gefährliche Entwicklung waren. Am meisten Sorgen bereitete ihm, dass seine Frau solche Dinge ernster nahm als er, und so erzählte er ihr, er sei vor der Synagoge gestürzt. Sie ließ sofort einen Arzt kommen, der seine Wunden verband und ihm zwei Tage Bettruhe verordnete.
Eine Woche darauf in der Synagoge verkündete der Rabbiner, dessen gebrochener Arm in der Schlinge an die gewaltsamen Ausschreitungen erinnerte, nach Beendigung der Gebete von der Kanzel: „Ich habe beschlossen, das Land zu verlassen und mit meiner Familie nach Jerusalem zu gehen. Polen ist für uns Juden eine tödliche Falle. Wem sein Leben lieb ist, der tut gut daran, seine Sachen zu packen und auszuwandern, bevor es zu spät ist.“
Moshe Stolowitzky wünschte ihm alles Gute. Zu Hause erzählte er seiner Frau von der Entscheidung des Rabbiners, Polen zu verlassen.