Gertrudas Versprechen. Ram Oren

Gertrudas Versprechen - Ram Oren


Скачать книгу
und psychische Strapazen ertragen. Sie lernten Methoden der Verhörstrategie und der Folter, mussten Hunden und Katzen mit bloßen Händen den Hals umdrehen, in Schützengräben liegen, während Fahrzeuge über sie hinwegrollten, ihre Kameraden in gnadenlosen Ringkämpfen außer Gefecht setzen, tagelang ohne Essen auskommen und Schläge und Dunkelhaft ertragen.

      Karl bestand das Training ohne größere Schwierigkeiten. Am Ende des Lehrgangs legte er seinen Eid ab und schwor dem Führer „Treue und Gehorsam“ bis in den Tod. Das SS-Symbol, zwei parallel verlaufende Blitze, wurde ihm in den Arm tätowiert. Er erhielt eine schwarze Uniform, neue Stiefel, eine Armbinde mit Hakenkreuz und einen Dolch, der am Gürtel zu tragen war.

      Als Karl in seiner neuen Uniform nach Hause kam, fing Helga bei seinem Anblick an zu weinen und in Miras Augen stand das blanke Entsetzen.

      „Du machst mir Angst“, sagte sie.

      „Es ist bloß eine Uniform“, versuchte er sie zu beruhigen. „Viele Deutsche tragen so etwas heutzutage.“

      Sie seufzte. „Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, Karl.“

      „Es besteht kein Grund zur Sorge, Mira.“

      „Wissen deine Vorgesetzten, dass du eine jüdische Frau hast?“

      „Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht.“

      „Und wie war ihre Reaktion?“

      „Sie schienen nichts dagegen zu haben.“

      Ihre Augen im blassen, ängstlichen Gesicht schienen riesengroß. „Noch nicht, Karl, noch nicht. Aber glaube mir, eines Tages werden sie eine ganze Menge dagegen haben.“

      „Unsinn“, widersprach er. „Sie werden sich damit abfinden müssen.“

      Doch Mira ließ nicht locker. „Erzähl mir nicht, sie hätten euch in diesem Übungslager die Rassenlehre der Nazis vorenthalten.“

      „Die Rassentheorie gehörte auch zum Lehrgang.“

      „Und das bedeutet“, nickte Mira, „sie werden früher oder später verlangen, dass du dich zwischen mir und der SS entscheidest. Was willst du ihnen dann erzählen?“

      „Dann werde ich sie davon überzeugen, dass du keine Gefahr für die Partei darstellst“, sagte er bestimmt. „Ich werde ihnen sagen, dass du voll und ganz hinter mir stehst.“

      Mira senkte den Kopf und wandte sich ab. „Du bist naiv, Karl. So naiv.“

      3.

      Mit der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 erfüllten sich Miras Voraussagen. Von nun an tat die nationalsozialistische Führung alles, um das jüdische Leben in Deutschland in sämtlichen Bereichen zu untergraben und die Juden ihrer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen zu berauben. Jüdische Angestellte in Regierungsbehörden wurden postwendend entlassen, ebenso jüdische Professoren an den Hochschulen und jüdische Führungskräfte in öffentlichen Einrichtungen. Sie wurden durch Deutsche, die sich als „reine Arier“ ausweisen konnten, ersetzt.

      Mira Rink verlor ihre Stelle im Justizministerium. Ihr Vorgesetzter entließ sie ohne Kündigungsschreiben mit den lapidaren Worten: „Laut Gesetz dürfen wir Sie nicht mehr beschäftigen. Bitte verlassen Sie noch heute das Ministerium.“

      Sie erhielt keinerlei Abfindung, auch den Lohn des angebrochenen Monats blieb man ihr schuldig.

      Niedergeschlagen und beschämt ging sie nach Hause und kochte Essen für die achtjährige Helga, die um die Mittagszeit aus der Schule kam.

      Als ihre Tochter sah, dass ihre Mutter schon da war, machte sie große Augen. „Mir war heute nicht gut“, stieß Mira hastig als Entschuldigung hervor. Dann erst bemerkte sie die ungewöhnliche Anspannung ihrer Tochter und ahnte, dass in der Schule etwas vorgefallen war.

      „Unser Lehrer hat heute gesagt, dass er uns nicht mehr unterrichten kann“, erzählte das Mädchen stockend. „Morgen kriegen wir einen neuen Lehrer.“

      Mira kannte den jüdischen Lehrer, er wohnte im gleichen Viertel. Er hatte eine kranke Frau und drei Kinder.

      Bei Tisch versuchte sie, so normal wie möglich zu klingen, um Helga nicht weiter zu beunruhigen. Danach half sie ihr bei den Rechenaufgaben. Am Abend, als Karl nach Hause kam, erzählte sie ihm, dass sie entlassen worden war – und ebenso Helgas Lehrer.

      „Es ist genauso gekommen, wie ich immer befürchtet habe.“ Ihre Stimme klang gepresst. „Deine Nazis werden keine Ruhe geben, bis alle Juden in Deutschland erledigt sind.“

      Karl strich ihr beruhigend über den Kopf. Noch immer leugnete er die drohende Gefahr und verschloss die Augen vor den Tatsachen.

      „Ich verstehe deine Sorge“, beschwichtigte er sie, „aber das Ganze ist nichts weiter als ein Kraftakt, in dem Hitler sich beweisen muss. In Wirklichkeit kümmern ihn die Juden herzlich wenig, denn er hat andere, wichtigere Dinge im Kopf wie etwa die wirtschaftliche Lage Deutschlands. Außerdem können wir froh sein, dass ich einen sicheren Arbeitsplatz habe. Was sollte jetzt ohne mein Gehalt aus uns werden?“

      In den nächsten Tagen kam Karl früher als sonst nach Hause, meistens mit einem Blumenstrauß. Regelmäßig lud er Mira ins Kino oder ins Theater ein und kaufte ihr kleine Geschenke und neue Bücher, da sie gern las. Er hoffte, sie würde sich bald wieder beruhigen und an die neue Situation gewöhnen. Dann würde es ihr sicher auch gelingen, die Dinge optimistischer zu sehen.

      Doch Mira sah die Realität allzu deutlich. Die Übergriffe auf Juden, die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage nahmen in drastischem Maße zu. Überall, auch in Privatunternehmen, kam es vermehrt zu Entlassungen. Die Zeitungen waren voller Hetztiraden und Verleumdungen, jüdische Geschäfte und Produkte wurden boykottiert. Miras Eltern standen kurz vor der Schließung ihres Lebensmittelladens, weil die Kundschaft ausblieb. Am 14. November 1935 wurden die Nürnberger Rassengesetze verabschiedet. Die Juden verloren die deutsche Staatsangehörigkeit. Außerdem verbot das Gesetz „Mischehen“ zwischen Juden und Ariern. „Weißt du, dass wir nach dem Gesetz eigentlich gar nicht mehr verheiratet sein dürften?“ Miras Stimme klang bitter.

      Wie gewöhnlich versuchte Karl ihre Bedenken zu zerstreuen. „Du wirst immer meine Frau bleiben“, erklärte er feierlich. „Niemand kann uns trennen.“

      4.

      In Warschau mussten Lydia und Jacob Stolowitzky am eigenen Leib erfahren, dass man sich mit Geld nicht alle Wünsche erfüllen kann und dass Reichtum nicht jede Sehnsucht stillt. Nach der ersten unbeschwerten Zeit, in der sie ihre junge Liebe und ihren Wohlstand genossen, schwand ihre Lebensfreude von Jahr zu Jahr. Lydia bewegte sich wie ein Schatten durch das große Haus, freudlos und stumm. Sie veranstaltete keine Partys oder Konzerte mehr, Freunde wurden nur noch selten eingeladen. In unzähligen Nächten weinte sie sich in den Schlaf. Denn trotz aller Bemühungen konnte sie nicht schwanger werden. Die Ärzte hatten alle Möglichkeiten ausgeschöpft und mussten eingestehen, dass sie ihr nicht helfen konnten. Alles deutete darauf hin, dass Lydia Stolowitzky niemals Kinder bekommen würde.

      Doch Lydia gab nicht auf. Nachdem die besten Ärzte Warschaus ihren Kinderwunsch nicht erfüllen konnten, suchte sie Rat bei namhaften Spezialisten in Zürich und Wien. Die Behandlungen waren unangenehm und langwierig. Oft waren längere Aufenthalte in Privatkliniken fern von zu Hause nötig, doch sie ließ nichts unversucht, und Jacob unterstützte sie darin in jeder Hinsicht. „Geld spielt keine Rolle“, pflegte er zu sagen. „Für ein eigenes Kind ist uns kein Preis zu hoch.“

      Trotz der erheblichen Summen, die sie als Honorare abrechneten, konnten auch die ausländischen Spezialisten nicht helfen. Aber Lydia wollte ihre Hoffnung noch nicht begraben. Da ihr die Medizin offensichtlich nicht weiterhelfen konnte, suchte sie Rat bei Rabbinern, Wunderheilern und Wahrsagern, spendete Geld für wohltätige Zwecke und füllte das Haus mit Amuletten gegen den bösen Blick.

      Als auch dies nicht zum


Скачать книгу