Gertrudas Versprechen. Ram Oren

Gertrudas Versprechen - Ram Oren


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würden, waren bereits angereist oder wurden – sofern sie nicht im eigenen Wagen von ihrem Chauffeur gefahren wurden – mit Kutschen vom Bahnhof abgeholt. Aus den Häusern drang Lachen und das unbeschwerte Geplauder der Gäste. Angestellte servierten ein opulentes Mittagessen auf einem Esstisch, der vierhundert Jahre zuvor der polnischen Königsfamilie gehört hatte. Kinder rannten umher und spielten auf dem Rasen, Babys wurden von ihren Kindermädchen im Sonnenschein spazieren gefahren.

      Das Abendessen fiel genauso üppig und extravagant aus wie die Mittagsmahlzeit, und nach dem Essen bat Lydia alle Gäste in den Ballsaal zum Konzert eines berühmten Kammerorchesters, das eigens zu dieser Gelegenheit aus Warschau gekommen war. Später zogen sich die Männer zurück und rauchten Zigarren, die Damen tranken warmen Cognac. Hausangestellte verteilten kleine Süßigkeiten auf den Kopfkissen. Später würden sie die Schuhe der Gäste, die über Nacht vor den Zimmertüren standen, auf Hochglanz bringen.

      Bei Tagesanbruch ritt die Familie mit ihren Gästen zur Jagd und zum Angeln, in Begleitung des gutseigenen Försters. Die erbeuteten Fasane und Steinbutte wanderten in die Küche und wurden dort für das Abendessen zubereitet. Am Nachmittag breiteten die Bediensteten weiße Picknickdecken am Seeufer aus und verwöhnten die Herrschaften mit erlesenen Köstlichkeiten und einem leichten Wein. Lydia las ihrem Sohn eine Geschichte vor, während Martha, die Kinderfrau, ausritt.

      Als es Abend wurde und die Gesellschaft sich anschickte, zum Haus zurückzukehren, bemerkte man, dass Martha immer noch fehlte. Lydia und Jacob begannen, sich Sorgen zu machen. Martha war außergewöhnlich gewissenhaft und kam nie zu spät. Sie warteten noch kurze Zeit, dann trommelte Jacob eine Gruppe Reiter zusammen, um Martha zu suchen. Sie fanden sie in einiger Entfernung vom Haus, im Wald zwischen den Bäumen liegend. Die Kinderfrau stöhnte vor Schmerzen. Das Pferd lag neben ihr mit gebrochenem Bein. „Er ist ganz plötzlich gestolpert, vielleicht in ein Kaninchenloch getreten“, sagte sie mit matter Stimme. Auf einer provisorischen Trage aus Decken und Jagdgewehren trug man sie zurück ins Sommerhaus.

      Ihr Unfall löste Sorge und Bestürzung aus. Martha war mehr als ein Kindermädchen; sie war zu einem geliebten und geschätzten Familienmitglied geworden. Michael schluchzte und Lydia ließ Emil rufen, der die Verletzte nach Warschau ins Krankenhaus brachte. Sie selbst fuhr ebenfalls mit. Bei der Eingangsuntersuchung wurde eine komplizierte Knieverletzung festgestellt sowie mehrere Quetschwunden am Arm. Die Ärzte äußerten sich besorgt. „Sie müssen ganz viel Geduld haben“, sagte einer von ihnen. „Es wird sehr lange dauern, bis das Knie wieder belastbar ist.“

      Lydia fuhr nicht sofort mit zurück zum Sommerhaus. Marthas Unfall ging ihr so nahe, dass sie stundenlang an ihrem Bett saß, versuchte, ihre Schmerzen zu lindern, ihr Trost zu spenden und sie aufzuheitern. Nie zuvor waren ihr Krankheit, Leid und Schmerz so unmittelbar begegnet; sie betete um Marthas schnelle Genesung.

      2.

      Es sollte der glücklichste Tag ihres Lebens werden, ein Meilenstein im Leben von Gertruda Babilinska. Wie hatten sie und ihre Familie diesen Tag herbeigesehnt! Nun war er endlich da und erfüllte Gertruda mit freudiger Erwartung.

      In dem kleinen Haus in Starogard bei Danzig, drei Eisenbahnstunden von Warschau entfernt, machte sich die Familie im Sonntagsstaat auf den Weg zur Kirche, wo die Trauung stattfinden sollte. Gertruda war das älteste Kind und die einzige Tochter.

      Die Braut sah bezaubernd aus in ihrem Hochzeitskleid, ein großes, schlankes Mädchen von neunzehn Jahren mit blondem Haar. Sie war Lehrerin der örtlichen Schule und außerordentlich beliebt. Schüler und Kollegen schätzten und bewunderten sie, und die Eltern zeigten ihre Anerkennung am Ende jedes Schuljahrs mit Blumen und Geschenken. Gertruda wollte nach ihrer Heirat weiter im Schuldienst bleiben, zumindest bis zur Geburt ihres ersten Kindes.

      Zahlreiche Verehrer hatten ihr den Hof gemacht, unter ihnen angesehene Männer. Doch Gertruda hatte keine Eile gehabt, und wenn es einem Bewerber nicht gelang, ihr Herz zu gewinnen, beendete sie die Verbindung. Eine Ehe aus Vernunftgründen, um des Geldes oder des sozialen Status willen, kam für sie nicht in Frage. Wenn sie schon heiratete, dann musste es jemand sein, den sie wirklich liebte.

      Dann lernte sie bei einer Feier im Freundeskreis Zygmunt Komorowski kennen. Er war in Warschau im Import-Export-Geschäft tätig, gepflegt und gut aussehend und zehn Jahre älter als sie. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er war beeindruckt von ihrer umfassenden Allgemeinbildung, ihren Sprachkenntnissen und ihrem charmanten Wesen und überhäufte sie mit Komplimenten, die sie zum Erröten brachten.

      Zygmunt war ein Mann von Welt. Er beeindruckte Gertruda durch seine höfliche, großzügige Art, durch die Geschichten über sein Leben in der Großstadt und seine internationalen Geschäfte, die er zu erzählen wusste. Nachdem er sie einige Monate lang umworben hatte, machte er ihr eines Abends im besten Restaurant von Starogard einen Heiratsantrag. Gertruda, überzeugt, nun endlich die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben, sagte freudig ja. Er versprach, mit ihr in Warschau in eine schöne große Wohnung zu ziehen, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und schwor ihr ewige Liebe.

      Sie beschlossen, in der kleinen Kirche von Starogard zu heiraten und anschließend im Haus der Brauteltern zu feiern. Gertrudas Mutter und sämtliche weiblichen Verwandten waren wochenlang mit den Vorbereitungen für die Hochzeitsfeier und das große Festessen beschäftigt.

      Als der große Tag gekommen war, schritt Gertruda, umringt von Freundinnen und Verwandten, zur Kirche auf dem Rathausplatz. Sie trug das weiße Kleid, das sie in Danzig gekauft hatte, und ihre Wangen glühten vor Aufregung.

      Vor dem Eingang standen die Schulkinder Spalier und applaudierten, als sie die Braut entdeckten. Errötend umklammerte Gertruda ihren kleinen Veilchenstrauß und dankte allen, die gekommen waren, für die guten Wünsche.

      Gemessenen Schrittes begab sich die Hochzeitsgesellschaft in die Kirche. Alles war bereit für die feierliche Zeremonie. Der betagte Organist wartete auf seinen Einsatz, der Priester strich sein Gewand glatt, und die Brauteltern schüttelten den zuletzt eingetroffenen Gästen die Hand. Alle warteten gespannt auf den Bräutigam, der gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern eintreffen sollte. Doch es wurde immer später.

      Endlich, nach einer halben Ewigkeit, betrat ein Bote die Kirche und überreichte Gertruda einen Brief. Während sie die Zeilen las, wich jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. Der Mann ihrer Träume erklärte ihr in knappen Worten, ohne einen Grund zu nennen, er könne sie leider doch nicht heiraten. Er schloss mit einer Entschuldigung für den Kummer, den er ihr damit bereitete, und wünschte ihr für die Zukunft alles Gute.

      Nachdem Gertruda sich aus ihrer Erstarrung gelöst hatte, brach sie in Tränen aus und stürzte aus der Kirche. Zu Hause schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und wollte niemanden sehen. Drei Tage lang lag sie im Hochzeitskleid auf ihrem Bett, aß nichts und schluchzte unaufhörlich. Als sie endlich wieder herauskam, mit rot geweinten Augen und durchsichtig wie ein Gespenst, teilte sie ihren Eltern mit ruhiger, gefasster Stimme mit, sie könne wegen der Schande nicht länger in der Stadt bleiben und habe beschlossen fortzugehen. Die Eltern, noch immer wie gelähmt von den Ereignissen, versuchten nicht, sie zum Bleiben zu überreden, sondern fragten nur, was sie denn vorhabe.

      „Ich gehe nach Warschau und suche mir dort eine Stelle. Ich werde schon darüber hinwegkommen. Dort kennt mich wenigstens niemand.“

      „Aber du musst versprechen, dass du wiederkommst“, beharrte ihre Mutter

      Gertruda zögerte. „Wie könnte ich das versprechen? Ich weiß doch selbst nicht, was die Zukunft bringt.“ Und mit einer vagen Handbewegung fügte sie hinzu: „Vielleicht finde ich dort sogar einen neuen Mann.“

      Unmittelbar darauf reichte sie bei der Schule ihre Kündigung ein. Der Schulleiter beteuerte, wie sehr er ihr Ausscheiden bedauere, und versuchte, sie zum Bleiben zu überreden. Mehrfach betonte er, wie sehr die Schüler sie vermissen würden und dass die Großstadt ein hartes Pflaster sei, wo Fremde nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurden. „Bitte, Frau Babilinska, überlegen Sie es sich noch einmal. Die Zeit heilt alle Wunden.“

      Doch seine Worte prallten an ihr ab, sie hatte ihre Entscheidung getroffen. „Alles, worum


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