Gertrudas Versprechen. Ram Oren
treten. Nach einer Weile freundete sie sich mit den Dienstmädchen an und half der Köchin, wenn es Gäste zu bewirten galt. Ihr Gehalt war mehr als ausreichend, und so war es ihr möglich, einen großen Teil davon beiseitezulegen.
Michael war ein begabtes Kind. Er liebte Bücher, und bereits im Alter von zwei Jahren erhielt er von einem Privatlehrer Klavierunterricht. Gertruda vergötterte den kleinen Jungen. Sie konnte sich an ihm nicht sattsehen und liebte sein sanftes, höfliches Wesen und seine klare, reine Kinderstimme, wenn sie zusammen bekannte Volkslieder sangen. Michael verbrachte mehr Zeit mit ihr als mit seiner Mutter. Er hörte für sein Leben gern die Gutenacht-Geschichten, die Gertruda ihm vorlas, und vermisste sie, wenn sie auf Besuch zu ihren Eltern fuhr.
Als er etwas älter war, begleitete er sie sonntags manchmal zur Kirche und spielte draußen auf dem Hof, bis sie wiederkam. Mehr als einmal wollte er mit hinein, um zu sehen, was drinnen vor sich ging, doch Gertruda wehrte ab. „Nein, du kannst leider nicht mitkommen. Du bist jüdisch. Diese Kirche ist nichts für dich.“
Damals, nach Marthas Unfall, war Gertruda mit Michael jede Woche ins Krankenhaus gefahren, um Martha zu besuchen. Die beiden Frauen freundeten sich rasch an, und Gertruda war bereit, zugunsten von Martha auf ihre Stelle zu verzichten, falls diese zurückkommen wollte. Doch sie hatten die Rechnung ohne Michael gemacht. „Ich mag Martha“, sagte er zu Gertruda, „aber dich hab ich viel lieber.“ Lydia bestand darauf, dass Gertruda blieb, und Jacob zahlte Martha eine ansehnliche Abfindungssumme.
Von da an wich Michael nicht mehr von Gertrudas Seite. Er bestand darauf, dass sie mit der Familie am Tisch aß anstatt mit den anderen Angestellten in der Küche. Als sie ihm erzählte, dass sie bald Geburtstag habe, überredete er seine Mutter, ihr ein teures Geschenk zu kaufen. Lydia ging in ein gutes Bekleidungsgeschäft, erstand für Gertruda ein schönes Kleid und organisierte eine kleine Geburtstagsfeier für sie, bei der sie ihr das Geschenk überreichte. Gertruda weinte vor Freude.
Ihr ganzes Leben spielte sich in der Welt der Stolowitzkys ab, und mit der Zeit kam es ihr vor, als ob das herrschaftliche Haus schon immer ihr Zuhause gewesen sei. Lydia war wie eine Schwester zu ihr. Die Dienstboten spürten diese besondere Verbundenheit und begegneten Gertruda mit dem Respekt, den man Höhergestellten entgegenbringt. Gertruda war jedoch sorgsam darauf bedacht, ihre Position nicht auszunutzen. Mit der Welt außerhalb hatte sie nur noch wenig Berührungspunkte, und als der Rektor ihrer alten Schule sie bat zurückzukommen, da man sie dort sehr vermisse, lehnte sie höflich, aber bestimmt ab und schrieb, sie sei glücklich in ihrer jetzigen Stellung und würde hier ebenso gebraucht und geschätzt.
Sie pflegte einen regen Briefwechsel mit alten Freundinnen, lernte Englisch in einem Fernkurs, strickte Pullover für Michael und zeigte Emil, dem Chauffeur, die kalte Schulter, als er ihr unbeholfen den Hof machte. Nach ihrer großen Enttäuschung wollte sie mit Männern nichts mehr zu tun haben.
4.
Hava Stolowitzky, Jacobs Mutter, starb am 22. September 1938 nach langer, schwerer Krankheit. Nur knapp drei Monate später erlitt ihr Mann Moshe in seinem Büro während einer Sitzung einen Schlaganfall und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Er war eine ganze Woche bewusstlos. Als er wieder zu sich kam, war er halbseitig gelähmt und konnte nur noch mit Mühe sprechen. Jacob sorgte dafür, dass sein Vater von den besten Ärzten behandelt wurde und die beste Pflege bekam. Er saß Tag und Nacht am Krankenbett und war glücklich, als sein Vater nach einer Woche die Augen aufschlug und ihn ansah.
„Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe“, sagte Moshe Stolowitzky unter großer Anstrengung. Doch er hatte noch etwas auf dem Herzen. „Ich bin sehr beunruhigt, mein Sohn. Die Lage in Deutschland spitzt sich zu. Hitler stellt eine große Armee auf, und er ist verrückt genug, mit ganz Europa einen Krieg anzuzetteln. Ich fürchte, er wird die ganze Welt gegen sich aufbringen und Unheil und Verwüstung anrichten. Am Ende wird alles zusammenbrechen und viele Unternehmen werden eingehen. Ich habe vor, meine Häuser und meinen Grundbesitz rechtzeitig zu verkaufen und das Geld in die Schweiz zu transferieren. Dieses Geld kann ein Notgroschen für Krisenzeiten sein und sich, wenn es gut angelegt ist, um ein Vielfaches vermehren. Wenn ich bald sterbe, möchte ich, dass du dies an meiner Stelle tust.“
Wenige Tage später schloss Moshe Stolowitzky für immer die Augen. Tausende wohnten seiner Beerdigung auf dem großen jüdischen Friedhof im Norden Warschaus bei. Er wurde neben seiner Frau beigesetzt, unweit des Grabes des Schriftstellers Isaac Leib Peretz. In den Marmorstein des Doppelgrabes der Stolowitzkys war die Darstellung einer Hand eingraviert, die ein Geldstück in eine Spendendose wirft – ein Symbol ihrer Großzügigkeit.
Nach dem Tod beider Eltern gingen das Haus in der Ujazdowska-Allee und das gesamte Vermögen der Familie auf Jacob über. Seine Frau Lydia verbrachte einige Monate damit, die Räume nach ihrem Geschmack umzugestalten. Jacob bemühte sich, die geschäftlichen Angelegenheiten seines Vaters zur Zufriedenheit der Kunden zu regeln und bestehende Verträge zu erfüllen.
Der kleine Michael wuchs wie ein Märchenprinz auf. Seine Kleider waren von einem renommierten Schneider angefertigt, die Köchin verwendete für seine Mahlzeiten nur die besten, frischesten Zutaten, und Gertruda wachte von morgens bis abends über ihm.
Lydia war stolz auf die neue Innenausstattung des Hauses und brannte darauf, ihr Werk den Gästen vorzuführen. Die Einweihung wurde mit einem rauschenden Ball für die Honoratioren Polens und die oberen Zehntausend Europas gefeiert. Der Wein floss wie Wasser, und der berühmte Bassist Fjodor Schaljapin, begleitet von den besten Musikern Warschaus, unterhielt die Gäste im großen Ballsaal mit Opernarien.
Jacob Stolowitzky erfüllte den letzten Willen seines Vaters und verkaufte fast den gesamten Familienbesitz, was ihm eine stolze Summe einbrachte. Mithilfe seines Schweizer Anwalts und Freundes Joachim Turner schaffte er die Millionen in die Schweiz und verteilte das Geld auf mehrere Banken. Er war überzeugt, das Richtige getan zu haben. Auf den Rat seines Vaters und dessen Vorahnung hatte er sich immer verlassen können.
5.
Seit ihren verzweifelten Bemühungen, ein Kind zu bekommen, war Lydia Stolowitzky abergläubisch und fürchtete, dass ihr Glück nicht von Dauer war. Obwohl es keinen einzigen konkreten Grund zur Sorge gab, lebte sie in ständiger Angst, ihrem einzigen Sohn könne etwas zustoßen, die Unternehmen ihres Mannes würden in Konkurs gehen, oder irgendeine andere Katastrophe würde sie alle in Trauer und Armut stürzen. Jacob ertrug geduldig die langen Monologe seiner Frau, die in allem und jedem ein schlechtes Omen sah, und versuchte vergeblich, ihre Ängste zu zerstreuen.
Falls Lydia einen Beweis brauchte, dass ihre Befürchtungen keine Hirngespinste waren, so sollte sie ihn an jenem schicksalhaften Samstagnachmittag bekommen. Es war ein warmer, sonniger Tag gewesen, und die Familie saß beim Sabbatmahl. Die Stimmung am Tisch war heiter und gelöst. Jacob erzählte von einem zukünftigen Vertrag mit der Regierung der Sowjetunion, in dem es um eine neue Eisenbahnstrecke von Moskau nach Taschkent in Usbekistan ging. Lydia schlug vor, das Ereignis durch einen festlichen Empfang mit musikalischer Umrahmung zu feiern und einen berühmten Geiger einzuladen. Michael sagte stolz und ohne zu stocken ein lustiges Gedicht aus einem neuen Kinderbuch auf, und alle klatschten Beifall.
Sie waren gerade mit der Suppe fertig, und das Küchenpersonal trug die gefüllten Fasane auf, als jemand klopfte. Alle schauten sich erstaunt an, denn es war strikt untersagt, die Familie während der Mahlzeiten zu stören, und das Hauspersonal respektierte das.
Es klopfte noch einmal, und plötzlich stand Emil in der Türöffnung. Er verbeugte sich und entschuldigte sich für die Störung.
„Kommen Sie später wieder“, sagte Jacob ungehalten.
„Verzeihung, aber dies ist dringend!“, beharrte der Chauffeur.
„Was ist so dringend, Emil?“
„Eine Frau gab mir diesen Brief für Sie. Sie sagte, es ginge um Leben oder Tod.“
Jacob Stolowitzky legte seine Gabel nieder und machte sich daran, den Umschlag zu öffnen. Dringende geschäftliche Nachrichten gehörten für ihn zum Alltag. Boten kamen und gingen selbst