Gertrudas Versprechen. Ram Oren

Gertrudas Versprechen - Ram Oren


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See. Es war ein warmer, sonniger Tag, und in den Cafés am Ufer saßen Leute im besten Sonntagsstaat bei Kaffee und Kuchen, löffelten Eiskrem und sahen den vorbeiziehenden Segelbooten zu. Die Zeiten waren hart, und die wirtschaftliche Lage spitzte sich zu, doch die Ausflügler taten so, als beträfe sie das alles nicht. Als wüssten sie nicht, dass in ihrem Wohnviertel ein Geschäft nach dem anderen Konkurs anmelden musste und dass die Arbeitslosenzahlen täglich stiegen. Karl dankte seinem Glücksstern für sein sicheres Einkommen und dass man seine Leistungen im Sport würdigte. Und dafür, dass er mit seiner Frau und seiner über alles geliebten Tochter in einem Café am Seeufer in dieser bezaubernden Ecke Berlins sitzen durfte.

      Doch das ungetrübte Glück währte nur kurze Zeit. Eines Morgens wurde Karl ins Büro seines Abteilungsleiters gerufen. Erwartungsvoll betrat er das Zimmer, in der Hoffnung auf eine Beförderung und auf einen besser bezahlten, interessanteren Posten. Doch er hatte sich zu früh gefreut.

      „Wissen Sie, Herr Rink“, hörte er den Abteilungsleiter sagen, „die Wirtschaftskrise hat unsere Firma schwer getroffen. Die Aufträge sind stark zurückgegangen, unsere Verluste werden von Tag zu Tag größer. Unter diesen Umständen sehen wir uns gezwungen, einige Mitarbeiter zu entlassen. Es tut mir leid, Herr Rink, dass es auch Sie betrifft.“

      Zehn Jahre lang hatte er für die Firma gearbeitet. Die Entlassung traf ihn wie ein Donnerschlag. Wortlos nahm er seinen Mantel und den Umschlag mit der bescheidenen Abfindungssumme und ging nach Hause.

      Als Karl die Tür aufschloss und plötzlich in der Wohnung stand, warf sich die inzwischen sechsjährige Helga mit einem Freudenschrei in seine Arme. Normalerweise kam ihr Vater nie so früh nach Hause. Auch Mira war überrascht, ihn zu sehen. „Was ist passiert, Karl?“, fragte sie besorgt. „Bist du krank?“

      „Nein“, erwiderte er mit tonloser Stimme. „Ich bin entlassen.“

      Mira sah ihn entsetzt an. Auch wenn die Arbeitslosigkeit im Land stieg und sich die wirtschaftliche Situation immer mehr verschlechterte, konnte sie nicht glauben, dass nun auch sie – wie viele andere Familien – ihre Lebensgrundlage einbüßen sollten. Täglich begegnete sie Leuten aus der Nachbarschaft, die ihre Arbeit verloren hatten. Man erkannte sie an ihrem schleppenden Gang und ihrem zu Boden gerichteten Blick, unfähig, jenen in die Augen zu schauen, denen das Glück hold war und die noch in der Lage waren, ihre Familien zu ernähren.

      Mira seufzte. Nun würden auch sie sich in das Heer dieser gebeugten Unglücksgestalten einreihen. Zum Glück hatten sie noch ihr bescheidenes Gehalt vom Ministerium, doch sie wussten beide, dass es nicht reichen würde.

      „Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie ängstlich.

      „Eine neue Arbeit suchen“, antwortete Karl, doch ihm war klar, dass dies nicht einfach sein würde.

      An jenem Abend blieben sie lange auf und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen über ihre ungewisse Zukunft. Sie überlegten, wer aus ihrem Bekanntenkreis ihnen vielleicht helfen konnte. Karl versprach, sich gleich am nächsten Tag auf die Suche nach Arbeit zu machen – irgendeiner Arbeit, solange sie ihm ein regelmäßiges Gehalt einbrachte. Er redete sich ein, dass bestimmt jemand eine Stelle für ihn hätte oder ihm in irgendeiner Weise weiterhelfen konnte.

      Er klopfte an die Türen sämtlicher Bekannten, die ihm alle höflich zuhörten, als er sein Anliegen vorbrachte. Doch helfen konnte ihm keiner. Stundenlang lief er von einer Firma zur nächsten und bot sich für alle möglichen Arbeiten an, doch am Abend kehrte er mit leeren Händen zurück.

      In den folgenden Tagen wanderte er mehr oder weniger ziellos umher, um den Blick aus Miras enttäuschten, glanzlosen Augen nicht ertragen zu müssen. Überall war er von ungeduldigen Arbeitgebern abgewiesen worden. Er hatte kaum noch Hoffnung, irgendeine Arbeit zu finden. Da er sich nicht traute, vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen, besuchte er regelmäßig das kleine Kino in ihrem Viertel, wo er sich Tag für Tag denselben Film ansah. Dort saß er zusammengesunken in seinem Sitz, allein und verzweifelt, und starrte auf die Leinwand, ohne die Bilder zu sehen.

      Eines Tages, nach erneuter erfolgloser Arbeitssuche, kam er an einem Gebäude vorbei, in dem gerade eine nationalsozialistische Parteiversammlung stattfand. Er trat ein, traf ein paar Bekannte aus dem Sportverein und lauschte den kämpferischen Worten der Redner, die einen wirtschaftlichen Aufschwung für Deutschland versprachen, wenn die Partei an die Macht käme. Die Arbeitslosen wurden aufgerufen, sich der NSDAP anzuschließen, so an der neuen Weltordnung mitzubauen und den Ruhm des Landes wiederherzustellen.

      Karl hörte aufmerksam zu. Eine neue Hoffnung keimte in ihm auf. Am Schluss der Veranstaltung war er einer der Ersten, die nach vorn gingen, um sich einzutragen. Er war nun offiziell Mitglied der Nationalsozialistischen Partei. In den darauf folgenden Tagen verpasste er keine Versammlung. Bald wurde er zu Parteidiensten herangezogen und lernte, Adolf Hitler zu bewundern, den „Führer“, der es verstand, seine Zuhörer zu fesseln wie kein anderer. Karl war von neuem Selbstbewusstsein erfüllt. Hier wurde er gebraucht. Und er wollte alles dafür tun, damit die Partei an die Macht kam, die seinem Land und ihm selbst eine neue Zukunft bieten konnte.

      2.

      Die Juden in Deutschland beobachteten die steigende Popularität der NSDAP mit wachsender Sorge. Wie eine riesige Krake streckte die Partei ihre Arme in alle Richtungen aus und durchdrang sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens. Hitler griff mit eiserner Faust durch. Um das Ziel seiner Machtergreifung zu verfolgen, war ihm jedes Mittel recht: die Vernichtung politischer Feinde, eine gezielte Propaganda der Angst und das Aufhetzen der Massen gegen die Juden, indem er behauptete, sie seien die Hauptschuldigen an der schlechten wirtschaftlichen Lage Deutschlands und verantwortlich für Armut und Arbeitslosigkeit im Land.

      Karl bezahlte für seinen Eintritt in die NSDAP einen hohen Preis. Seine Parteizugehörigkeit verursachte einen Vertrauensbruch bei seinen jüdischen Verwandten und Freunden, insbesondere bei Miras Eltern. Viele von Miras und Karls gemeinsamen Freunden brachen den Kontakt zu ihnen ab. Miras Eltern verboten ihm, noch einmal einen Fuß über ihre Schwelle zu setzen.

      Mira flehte ihren Mann immer wieder an, aus der Partei auszutreten, doch ihre stundenlangen Diskussionen führten zu nichts.

      „Deine Parteifreunde sind gewissenlose Mörder“, sagte sie mehr als einmal. „Wer anderer Meinung ist und sich gegen sie stellt, den bringen sie kaltblütig um die Ecke. Und sie werden alles tun, um die Juden loszuwerden.“

      „Du übertreibst, meine Liebe“, wiegelte er ab. „Diese Stimmungsmache gegen die Juden ist bloß eine Strategie, um Wähler zu gewinnen.“

      Naiv glaubte er an die lauteren Motive Hitlers und gab vor, als Parteimitglied keine andere Wahl zu haben, als die Ideologie der Nazis zu unterstützen. „Du wirst sehen, wie gut es uns gehen wird, wenn Hitler an die Macht kommt“, sagte er zuversichtlich.

      Mira schaute ihn entgeistert an. „Was redest du da, Karl? Wenn Hitler an die Macht kommt, wird es uns schlecht gehen – vor allem uns Juden!“

      Karl beendete die Diskussion mit einer ungeduldigen Handbewegung. „Was verstehst du schon von Politik!“

      Mira begriff, dass er verbohrt war: Es hatte keinen Sinn, vernünftig mit ihm zu reden. Sie schwieg, doch sie spürte, wie sich eine kalte Faust um ihr Herz schloss.

      Blind für die düstere Realität, weitete Karl seine Aktivitäten innerhalb der Partei mehr und mehr aus. Bald wurde ihm nahegelegt, der SS beizutreten, wo man ihn mit offenen Armen empfing. Nach einer gründlichen medizinischen Untersuchung wurde ihm eine ausgezeichnete Gesundheit bescheinigt. Ein Psychologe befragte ihn über seine Eltern, seine Kindheit, seine Ausbildung, seine Freunde, seine Familie, seinen Beruf und seine Hobbys.

      In beinahe jeder Hinsicht war Karl der ideale Kandidat für die SS: Er war „reiner Arier“, hoch motiviert und körperlich fit. Es gab nur einen wunden Punkt: Er war mit einer Jüdin verheiratet. Doch die SS-Führer wollten Rink um jeden Preis und waren überzeugt, dieses Problem würde sich früher oder später von selbst lösen. Er bekam ein gutes Gehalt und wurde zu einem dreiwöchigen Ausbildungslehrgang in ein geheimes


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