Dr. Daniel Staffel 5 – Arztroman. Marie Francoise
›rücksichtsloser Klotz‹ ist noch eine starke Untertreibung. In meinen Augen ist dieser Mann kriminell. Es ist schon eine Weile her, da war Frau Heidenrath bei mir in der Praxis. Angeblich ist sie die Treppe hinuntergefallen, aber ich wette mir dir, daß ihr Mann sie in Wirklichkeit verprügelt hatte.«
Dr. Daniel seufzte. Manons Worte waren eigentlich nur noch eine Bestätigung dessen, was er schon seit einer ganzen Weile befürchtet hatte.
»Sie ist wieder schwanger«, erklärte er. »Und sie will das Kind austragen, obwohl sie weiß, daß eine weitere Geburt sie das Leben kosten kann.« Er seufzte wieder. »Ich schaffe es einfach nicht, sie zu einer Abtreibung zu bewegen. Ursprünglich wollte ich ja, daß sie sich sterilisieren läßt, aber das wagt sie natürlich nicht, und mit ihren Mann ist in dieser Hinsicht überhaupt nicht zu reden.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sich Dr. Daniel über die Stirn. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, um dieser Frau das Leben zu retten.«
*
Fast vier Wochen lang verlief im Hause Gerlach alles glatt. Während dieser Zeit hatte Rudi zweimal nach Steinhausen fahren dürfen, um die Scheiblers zu besuchen. Darüber hinaus bemühten sich Kurt und Christa, sich mit Schimpfen und Strafen ein wenig zurückzuhalten – wenn auch nur, um zu vermeiden, daß Dr. Scheibler vielleicht doch noch gerichtliche Schritte gegen sie einleiten würde. Immerhin hätte man ihnen das, was sie gelegentlich mit Rudi angestellt hatten, als grobe Kindesvernachlässigung auslegen können.
Allerdings hatte zumindest Christa nach diesen vier Wochen immer größere Schwierigkeiten, sich Rudi gegenüber zusammenzunehmen. Allein durch seine Anwesenheit brachte er sie schon gegen sich auf, und wäre das Geld nicht gewesen, das sie Monat für Monat kassierten, dann hätte sie den Jungen liebend gern von Dr. Scheibler und seiner Frau adoptieren lassen.
Inzwischen hielt der launische April in München Einzug, und an einem außergewöhnlich kalten, regnerischen Tag geriet Rudi mit einem Klassenkameraden in Streit. Es war im Grunde nur eine ganz normale Keilerei, wie sie gelegentlich zwischen zwei Jungen vorkommt, und Rudi war maßlos stolz darüber, daß er als Sieger aus dem Streit hervorgegangen war. Daß seine neuen
Jeans einen langen Riß abbekommen hatten, überdies völlig durchnäßt waren und vor Schmutz starrten, kümmerte ihn nicht weiter. Auch seine Jacke war arg in Mitleidenschaft gezogen worden, und das war dann auch das erste, was Christa sah, als Rudi das Haus betrat.
»Himmel noch mal, wie siehst du denn aus?!«
Ihre Stimme überschlug sich fast. Sie war vollkommen außer sich vor Zorn. Und in dieser Stimmung ging sie auf den armen Rudi los. Eine wahre Schimpfkanonade ergoß sich über den armen Jungen, begleitet von schmerzhaften Knüffen. Aber noch bevor sich Christa vollends abreagieren konnte, ergriff Rudi die Flucht. Er rannte aus dem Haus und lief dann einfach los – hinaus aus München und die Landstraße entlang in Richtung Steinhausen.
Als er den kleinen Vorgebirgsort endlich erreichte, war bereits die Dunkelheit hereingebrochen, und schon vor Stunden hatte es zu regnen begonnen. Rudi war naß bis auf die Haut, und der kalte Wind ließ ihn entsetzlich frieren. Schon längst konnte er nicht mehr laufen, sondern schleppte sich nur noch mühsam Schritt für Schritt weiter. Dann sah er vor sich am Horizont das Haus, in dem Gerrit und Steffi wohnten. Mit klammen Fingern drückte er auf den Klingelknopf neben dem Namen Scheibler, doch nichts rührte sich.
Rudi hatte keine Uhr bei sich, aber er rechnete damit, daß Gerrit jeden Augenblick aus der Klinik kommen müßte, und auch Steffi und Daniela würden sicher bald heimkommen. Es war bestimmt schon gegen acht Uhr. Zitternd vor Kälte ließ sich Rudi neben der Haustür nieder, schlang beide Arme um die Beine und versuchte sich auf diese Weise ein wenig warmzuhalten.
Minuten und Stunden verrannen, doch weder Gerrit noch Steffi kamen nach Hause. Der Wind war inzwischen so schneidend kalt, daß er Rudi Tränen in die Augen trieb. Er versuchte aufzustehen und sich durch Bewegung warmzuhalten, doch die Kälte saß so schmerzhaft in seinen Gliedern, daß er sich kaum noch rühren konnte.
»Gerrit«, murmelte er verzweifelt. »Bitte, Gerrit, komm doch endlich nach Hause.«
*
Es war eine ruhige Nacht, die Dr. Scheibler mit Schwester Irmgard in der Klinik verbrachte. Sie hatten Nachtschicht und wunderten sich ein wenig darüber, daß trotz des unfreundlichen Wetters nicht viel los war. Normalerweise häuften sich gerade bei solch ungünstigen Straßenverhältnissen die Zahl der Unfälle.
»Anscheinend traut sich heute niemand mehr auf die Straße«, meinte Schwester Irmgard lächelnd.
»Sieht so aus«, stimmte Dr. Scheibler zu. »Aber uns soll’s nur recht sein. Ich habe nichts gegen einen ruhigen Nachtdienst, und Sie sicher auch nicht.«
Noch bevor Schwester Irmgard antworten konnte, ertönte die Klingel.
»Schon vorbei mit der Ruhe«, meinte sie seufzend. »Das wird Frau Westphal sein. Die hält mich jetzt mindestens eine halbe Stunde lang in Trab.« Die Nachtschwester erhob sich kopfschüttelnd. »Ständig braucht sie irgend etwas anderes.« Dann lächelte sie dem Oberarzt entschuldigend zu. »Ich weiß, ich dürfte das eigentlich nicht sagen, aber – ich bin heilfroh, wenn sie endlich entlassen wird.«
Dr. Scheibler lächelte. »Von mir wird bestimmt niemand etwas erfahren.«
»Danke, Herr Oberarzt«, meinte Schwester Irmgard, bevor sie sich auf den Weg zu der Patientin machte, die gerade geklingelt hatte. Und dabei dachte sie wieder einmal, wie angenehm es doch war, in der Waldsee-Klinik zu arbeiten. Hier gab es keine arroganten Ärzte, die sich selbst als Halbgötter in Weiß sahen und Krankenschwestern wie Menschen zweiter Klasse behandelten. An ihrer früheren Arbeitsstelle hatte sie da anderes erlebt.
Dr. Scheibler blieb im Schwesternzimmer, bis Irmgard zurückkehrte.
»Alles ruhig«, erklärte er, dann sah er auf die Uhr. »Ich schätze, das wird eine lange Nacht werden. Wenn man vor lauter Arbeit nicht mehr aus den Augen sehen kann, ist es nicht gerade angenehm, aber wenn sich überhaupt nichts rührt…« Er winkte lächelnd ab. »Ich fürchte, uns Ärzten kann man es einfach nicht recht machen, was?«
Schwester Irmgard lächelte, dann meinte sie: »Legen Sie sich doch im Ärztezimmer ein bißchen hin. Ich sage Ihnen schon Bescheid, wenn Sie gebraucht werden.«
»So etwas sollten Sie den Chefarzt aber nicht hören lassen«, grinste Dr. Scheibler. »Schließlich habe ich keinen Schlafdienst.«
Schwester Irmgard zuckte die Schultern. »Dr. Metzler hört es ja auch nicht. Außerdem weiß er ganz genau, was er an Ihnen hat. Sie sind neben ihm der beste Arzt hier an der Klinik. Dr. Daniel einmal ausgenommen. Im übrigen ist es unsinnig, wenn wir alle beide nur untätig herumsitzen. Ruhen Sie sich aus, Herr Oberarzt. Schließlich wollen Sie doch morgen mit Rudi etwas unternehmen.«
Das Schicksal des kleinen Jungen, der bei seinen Verwandten so unglücklich war, hatte sich bereits herumgesprochen, und als Dr. Scheibler ihn einmal kurz mit in die Klinik genommen hatte, waren Rudi gleich sämtliche Herzen entgegengeflogen.
»Ja, ich freue mich schon sehr darauf«, erklärte Dr. Scheibler jetzt, und ein liebevolles Lächeln erschien auf seinen markanten Zügen. »Sein Onkel und seine Tante sind wahrscheinlich ganz froh darüber, daß er das Wochenende bei Steffi und mir verbringen wird. Allerdings scheint es in letzter Zeit bei den Gerlachs etwas besser zu gehen. Immerhin ist Rudi seit vier Wochen nicht mehr davongelaufen.«
»Vielleicht wendet sich ja doch noch alles zum Guten für den Kleinen.«
Dr. Scheibler nickte. »Zu wünschen wäre es ihm.«
*
Der Morgen graute, als Dr. Scheibler von seinem Nachtdienst nach Hause kam. Er hatte Schwester Irmgards Rat beherzigt und sich ein wenig hingelegt, so daß er jetzt wieder verhältnismäßig ausgeruht war. Er würde noch eine Kleinigkeit essen, zwei oder drei Stunden schlafen und sich dann erst mal auf den Weg zu seiner Schwiegermutter machen, um Stefanie und Daniela abzuholen, die den gestrigen Abend und die darauffolgende Nacht dort verbracht hatten. Anschließend würden sie gemeinsam zu den Gerlachs fahren