Dr. Daniel Staffel 5 – Arztroman. Marie Francoise
Sie endlich!« verlangte er nur.
Erst in diesem Moment fiel Dr. Daniels Blick auf die beiden Mädchen, die sich völlig verängstigt in die Ecke gedrückt hatten.
»Ich werde Gitti und Nina mitnehmen«, erklärte er. »Sie müssen schließlich morgen früh wieder zur Arbeit und…«
»Die zwei können sich selbst versorgen«, fiel Helmut ihm ins Wort. »Wo sind die anderen Gören?«
»Unsere Krankenpflegehelferin Darinka kümmert sich um Barby, Kristin und Helene«, antwortete Dr. Daniel. »Ich bin sicher, daß es ihr nichts ausmachen würde, auch Gitti und Nina…«
»Die zwei bleiben bei mir«, entgegnete Helmut barsch, dann drängte er den Arzt fast gewaltsam hinaus und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Dr. Daniel seufzte tief auf. Nur selten hatte er sich so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. Was konnte er jetzt noch für Gunilla tun?
*
Als Gunilla erwachte, saß Dr. Daniel bei ihr am Bett. Erschrocken fuhr sie hoch.
»Wo sind die Mädchen?« fragte sie mit bebender Stimme.
Vorsichtig drückte Dr. Daniel sie wieder in die Kissen zurück.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Heidenrath«, erklärte er dabei besänftigend. »Barby, Kristin und Helene werden von unserer Krankenpflegehelferin versorgt, und die beiden Großen sind bei Ihrem Mann.«
Gunillas Unterlippe begann zu zittern. Es war ganz deutlich, daß sie um Gitti und Nina fürchtete.
»Ich muß sofort nach Hause, Herr Doktor.«
Doch Dr. Daniel schüttelte bedauernd den Kopf. »Das kann ich nicht verantworten, Frau Heidenrath. Sie haben eine Menge Blut verloren.« Er schwieg kurz. »Ich weiß genau, was in Ihnen vorgeht, aber wenn ich Sie jetzt aus der Klinik entlasse, dann sind Sie in ein paar Stunden wieder hier, das kann ich Ihnen versichern. Und dann gelingt es mir womöglich nicht mehr, Sie zu retten. Es war diesmal schon schwierig genug.«
Dieses Argument schien Gunilla zu überzeugen. Lieber ließ sie Gitti und Nina für ein paar Tage in der Obhut ihres rücksichtslosen und oftmals brutalen Mannes als womöglich alle fünf Kinder für immer…
»Machen Sie mich bitte schnell gesund, Herr Doktor«, bat sie leise. »Meine Kinder brauchen mich.«
Dr. Daniel nickte. »Genau dar-über muß ich mit Ihnen sprechen, Frau Heidenrath. Sie dürfen keine weitere Schwangerschaft mehr riskieren. Ein sechstes Kind würde Sie unweigerlich umbringen.«
Hilflos schluchzte Gunilla auf. »Was soll ich denn tun, Herr Doktor? Helmut will unbedingt einen Sohn.«
»Das ist sein Problem«, urteilte Dr. Daniel ungewöhnlich hart, dann wurde seine Stimme wieder sanft und eindringlich. »Frau Heidenrath, Sie sollten jetzt nicht an Ihren Mann und seine verschrobenen Vorstellungen denken, sondern einzig und allein an sich und Ihre Kinder. Wie Sie vorhin ganz richtig sagten – die Mädchen brauchen Sie.«
Gunilla zögerte. »Helmut wünscht sich diesen Jungen so sehr…«
»Frau Heidenrath, Ihr Mann stammt aus einer Familie mit elf Mädchen… eigentlich waren es sogar vierzehn, wenn man die drei Babys mitrechnet, die kurz nach der Geburt gestorben sind. Damit liegt die Wahrscheinlichkeit, daß Ihr nächstes Baby ein Junge wird, meiner Meinung nach nicht einmal bei fünfzig Prozent. Es wäre der pure Wahnsinn, wenn Sie dafür Ihr Leben aufs Spiel setzen würden.«
Mit einer fahrigen Handbewegung strich sich Gunilla über die Stirn, dann schluchzte sie auf.
»Was soll ich denn bloß tun, Herr Doktor? Ich bin doch erst zweiundvierzig. Ich will noch nicht sterben. Und meine Kinder… Helmut ist mit ihnen immer so… so streng…«
Dr. Daniel ahnte, daß das eine dezente Umschreibung war für das, was Helmut Heidenrath hinter verschlossenen Türen wohl tatsächlich tat. Für einen Augenblick fragte er sich, ob man dem Mann vielleicht auf diese Weise beikommen könnte, doch er verwarf diesen Gedanken rasch wieder. Bisher hatte Dr. Daniel nicht feststellen können, daß Helmut seine Kinder vielleicht sogar mißhandeln würde, und er sah die Familie Heidenrath ja ziemlich häufig.
»Sie sollten sich sterilisieren lassen«, antwortete Dr. Daniel jetzt auf Gunillas Frage.
Heftig schüttelte Gunilla den Kopf. »Nein, Herr Doktor, das kann ich nicht! Helmut würde mich umbringen…«
»Frau Heidenrath, Sie dürfen kein Baby mehr bekommen, und die einzige wirklich sichere Methode, um das zu verhindern, ist nun mal eine Sterilisation.« Impulsiv ergriff er ihre Hand. »Ich würde so etwas einer Frau niemals leichtfertig empfehlen, das können Sie mir glauben. Eine Sterilisation ist ein ziemlich endgültiger Schritt und will daher gut überlegt sein. Aber in Ihrem Fall, Frau Heidenrath, kann er lebensrettend sein.«
Doch Gunilla schüttelte wiederum den Kopf. »Nein, Herr Doktor, ich kann einfach nicht. Meine Ehe ist schwierig genug, ich darf sie mit so etwas nicht noch zusätzlich belasten.« Sie wich Dr. Daniels Blick aus. »Sie müssen mich verstehen, Herr Doktor. Mein Mann… er… er hat mich schon wegen weniger wichtigen Dingen geschlagen…«
Unwillkürlich ballte Dr. Daniel die Fäuste. Noch nie im Leben hatte er einen Menschen so sehr verabscheut wie diesen groben Helmut Heidenrath, und es machte ihm arg zu schaffen, daß er gerade in diesem Fall nicht so leicht Hilfe bringen konnte.
*
Es verging kaum ein Tag, an dem Dr. Scheibler nicht an den kleinen Rudi Gerlach dachte. Während dieser Zeit suchte er einen befreundeten Rechtsanwalt auf, ging zum Jugendamt und sogar zum Gericht, doch gleichgültig wo er seine Geschichte vorbrachte – es wurde ihm klipp und klar gesagt, daß er keine Chance hatte, den Jungen auch nur in Pflege zu bekommen, solange die Gerlachs damit nicht einverstanden waren – es sei denn, sie würden das Kind extrem vernachlässigen oder gar mißhandeln, doch beides war offensichtlich nicht der Fall. Rudi wurde zwar allem Anschein nach sehr streng erzogen, doch das rechtfertigte noch kein Einschreiten von Amts wegen. Schließlich gab Dr. Scheibler auf und versuchte, Dr. Daniels Rat zu folgen.
Er stürzte sich in seine Arbeit, beschäftigte sich noch intensiver als zuvor mit seiner kleinen Tochter und tat alles, um den kleinen Rudi zu vergessen. Doch die großen, traurigen Augen schienen ihn zu verfolgen. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, den Jungen aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Und ganz offensichtlich beruhte das auf Gegenseitigkeit, denn eines Abends gab es ein Wiedersehen zwischen den beiden.
Als Dr. Scheibler nach dem Dienst seine Wohnung betrat, kam ihm seine Frau Stefanie lächelnd entgegen.
»Rate mal, wer zu Besuch gekommen ist?« fragte sie mit geheimnisvollem Blick.
Dr. Scheibler zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Geli vielleicht?«
Stefanie schüttelte den Kopf, dann öffnete sie die Wohnzimmertür. Dr. Scheibler glaubte seinen Augen nicht zu trauen: Da saßen Daniela und Rudi einträchtig auf dem Teppich und spielten hingebungsvoll miteinander. Jetzt sah der Junge auf.
»Gerrit!« rief er, und dabei glitt ein glückliches Strahlen über sein Gesicht, dann sprang er auf und fiel Dr. Scheibler um den Hals.
»Rudi, Junge, wo kommst du denn her?« fragte Gerrit, als er sich von der ersten Überraschung erholt hatte. »Und woher wußtest du, wo ich wohne?«
Mit leuchtenden Augen sah Rudi zu ihm auf. »Du hast damals bei der Polizei deine Adresse angegeben, und die habe ich mir eben gemerkt.«
Spontan nahm Dr. Scheibler den Kleinen in die Arme.
»Ich habe oft an dich gedacht, Rudi«, gestand er, dann sah er ihn prüfend an. »Hat deine Tante dich damals bestraft?«
Der Junge nickte. »Das tut sie immer, wenn ich davonlaufe. Onkel Kurt hat mir auch noch ein paar hinten drauf gegeben.« Er lächelte wieder. »Aber jetzt werde ich bei dir und Steffi bleiben – für immer.«
Mit einem tiefen Seufzer stand Dr. Scheibler