Dr. Daniel Staffel 5 – Arztroman. Marie Francoise

Dr. Daniel Staffel 5 – Arztroman - Marie Francoise


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      »Hast du Hunger, Rudi?« wollte er schließlich wissen.

      Der Kleine zögerte, dann nickte er.

      Dr. Scheibler stand auf. »Gut, ich werde uns etwas zu essen holen. In ein paar Minuten bin ich wieder hier.«

      Im selben Moment sah er die Angst in den großen Kinderaugen aufblitzen.

      »Ich komme zurück, Rudi, das verspreche ich dir«, versicherte Gerrit, streichelte flüchtig über den blonden Wuschelkopf des Jungen und verließ dann mit langen Schritten die Polizeistation.

      Es dauerte länger, als Dr. Scheibler gedacht hatte. Es war nämlich nicht beim Essenholen geblieben, denn unterwegs war ihm eingefallen, daß er Steffi unbedingt Bescheid sagen mußte. Sie würde sonst vor Sorge um ihn umkommen. Als er ihr den Grund für sein nächtliches Ausbleiben allerdings geschildert hatte, drängte sie ihn sogar, dem armen Jungen Gesellschaft zu leisten.

      »Wenn seine Tante und sein Onkel ihn tatsächlich nicht haben wollen, dann bring ihn ruhig mit«, fügte Stefanie noch hinzu.

      »Ich werde sehen, was sich machen läßt«, meinte Dr. Scheibler, denn ihm war dieser Gedanke auch schon durch den Kopf gegangen.

      Doch als er die Polizeidienststelle wieder erreichte, konnte er Rudi nirgends sehen. Auch der Beamte, der sie in Empfang genommen hatte, war anscheinend für einen Moment hinausgegangen. Vielleicht war aber auch sein Dienst jetzt beendet.

      »Sind Sie nicht der Arzt, der Rudi hergebracht hat?« sprach ihn ein anderer Polizist an.

      »Ja. Wurde er doch noch abgeholt?«

      Der Polizist lachte. »Ach, wo denken Sie hin. Nein, der Kleine hat sich in die Zelle gelegt. Er hat ganz fürchterlich geweint, weil er dachte, Sie kämen nicht mehr zurück.«

      Zusammengerollt wie ein Murmeltier lag der Junge auf der Pritsche, und an seinem bebenden Rücken erkannte Dr. Scheibler, daß er noch immer weinte.

      »Rudi«, sprach er ihn leise an.

      Der Kleine fuhr hoch, und als sich Gerrit zu ihm setzte, fiel er ihm um den Hals.

      »Ich dachte… es hat so furchtbar lange gedauert… und… und…«

      Wieder fing er an zu schluchzen.

      »Hör zu, Rudi, ich habe dir versprochen zurückzukommen, und ich pflege meine Versprechen auch zu halten. So, und jetzt essen wir erst mal etwas.« Dr. Scheibler begann auszupacken. »Ich hoffe, du magst Pizza.« Er lächelte. »Meine beiden Neffen sind immer ganz wild darauf.«

      Auch Rudi brachte ein scheues Lächeln zustande. »Ich mag Pizza sogar sehr gern.« Er nahm ein Stück entgegen. »Danke, Herr Dr. Scheibler.«

      »Vergiß den Doktor«, entgegnete der junge Oberarzt, »und sag einfach Gerrit zu mir.« Er lächelte den Jungen an. »So, Rudi, laß es dir gut schmecken.«

      Der Kleine nickte. »Danke, Gerrit.

      Mit großem Appetit verzehrte er ein Stück Pizza nach dem anderen, und Dr. Scheibler konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Junge vermutlich schon seit einer Ewigkeit nichts mehr zu essen bekommen hatte. Als er diese Vermutung äußerte, senkte Rudi den Kopf.

      »Ich habe heute schlechte Noten aus der Schule mit nach Hause gebracht«, erklärte er leise. »Immer wenn ich schlechte Noten bekomme, dann werde ich in mein Zimmer gesperrt und bekomme nichts zu essen.« Es schwieg kurz. »Als es dunkel wurde, bin ich einfach aus dem Fenster geklettert.« Dann sah er Dr. Scheibler bittend an. »Kann ich denn nicht bei dir bleiben, Gerrit?«

      »Ich will ganz ehrlich sein, Rudi, daran habe ich auch schon gedacht. Aber dazu muß ich zuerst mit deiner Tante und deinem Onkel sprechen. Und nur wenn sie einverstanden sind, könnte ich etwas unternehmen.«

      Wie schutzsuchend kuschelte sich Rudi an ihn.

      »Ich will nicht zurück«, flüsterte er. »Tante Christa mag mich nicht.«

      Wieder wurde Dr. Scheibler das Herz schwer. Unwillkürlich dachte er daran, wie sehr Steffi und er sich ein zweites Kind wünschten. Und jetzt war da ein kleiner Junge, der sich verzweifelt nach Liebe sehnte…

      »Ich werde es versuchen, Rudi«, versprach er spontan, dann schränkte er jedoch ein: »Aber mach dir mal besser nicht zu große Hoffnungen. Ich kann nur etwas ausrichten, wenn deine Tante und dein Onkel mitmachen.«

      *

      Der Anruf der Polizei erreichte Kurt und Christa Gerlach gegen zehn Uhr abends.

      »Er ist wiederaufgetaucht«, erklärte Kurt, als er das Gespräch beendet hatte und zu seiner Frau ins Wohnzimmer zurückkehrte.

      »Schön«, entgegnete sie beiläufig, während sie sich weiterhin auf die Nachrichten im Fernsehen konzentrierte.

      »Sag mal, Christa, ist dir Rudi denn vollkommen gleichgültig?«

      Jetzt endlich wandte seine Frau ihm das Gesicht zu. Sogar um diese Zeit war sie noch makellos geschminkt und trug ein auf Figur gearbeitetes Kleid von Lagerfeld. Dabei saß sie auf dem Sofa, als wäre sie nur auf einen Sprung zu Besuch gekommen.

      »Willst du etwa behaupten, daß dir so besonders viel an dem Jungen liegt?« konterte sie mit bissiger Stimme.

      Kurt seufzte. »Er ist immerhin das Kind meines verstorbenen Bruders.«

      »Das uns aufgehalst wurde«, fügte Christa hinzu. »Warum konnte man ihn nicht in ein Heim geben? Tausende Kinder leben dort. Immerhin waren wir beide uns darin einig, daß wir keine Kinder wollen.«

      Kurt seufzte noch einmal. »Ich weiß, aber…« Er zuckte die Schultern. »Gerhard würde es mir niemals verzeihen, wenn ich Rudi in ein Heim gebe.«

      »Gerhard ist tot«, entgegnete Christa kalt. Sie hatte ihren Schwager ja nie besonders gut leiden können. »Was kümmert es dich also, ob er dir verzeihen würde oder nicht? Und Rudi will anscheinend ohnehin nicht bei uns bleiben. Warum würde er wohl sonst ständig davonlaufen?«

      »Du verwöhnst ihn schließlich nicht gerade mit Liebe«, hielt Kurt ihr vor.

      »Du auch nicht!« konterte Christa. »Erst vorige Woche hast du ihm ein paar hinter die Löffel gegeben, weil er ein Glas Limonade umgeschüttet hat.«

      »Ja, auf den nagelneuen Perser«, verteidigte sich Kurt, dann zuckte er die Schultern. »Natürlich könnten wir ihn in ein Heim abschieben. Vielleicht würde ihn dort sogar jemand adoptieren, aber das Geld, das wir monatlich für ihn bekommen, ginge damit auch verloren. Du kennst Gerhards Testament. Die Zinsen aus seinem nicht unerheblichen Vermögen bekommt nur der, der den Jungen bis zu seiner Volljährigkeit versorgt. Und gerade du würdest dich ganz schön umschauen, wenn wir dieses satte Nebeneinkommen nicht mehr hätten.«

      Christa schwieg. Natürlich gefiel es ihr ungemein, jeden Monat zusätzlich über einen stattlichen Betrag zu verfügen, der natürlich nur ihren eigenen Bedürfnissen zugute kam und nicht – wie es eigentlich gedacht war – für Rudi verwendet wurde.

      »Na ja, vielleicht hast du recht«, gab sie widerwillig zu. »Für das Geld kann man die kleine Nervensäge schon eine Weile in Kauf nehmen.« Dann lächelte sie. »Und zumindest heute haben wir ja unsere Ruhe vor ihm.«

      Auch Kurt machte es sich jetzt bequem. Er teilte im Grunde Christas Meinung. Sie mußten es genießen, daß Rudi weg war. Morgen würden sie ihn sowieso schon wieder auf dem Hals haben.

      *

      Dr. Scheibler blieb auf der Polizeiinspektion, bis Rudi von seiner Tante am nächsten Morgen abgeholt wurde.

      »Frau Gerlach, das ist Dr. Scheibler«, stellte der Beamte vor, der Gerrit und Rudi am vorherigen Abend in Empfang genommen hatte. »Er war so freundlich, Rudi herzubringen, und ist die ganze Nacht über bei ihm geblieben.«

      Völlig fassungslos starrte Christa den jungen Oberarzt an. Es war ihr unvorstellbar, daß ein Mensch freiwillig die Nacht in einer Polizeidienststelle verbrachte, nur um einen


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