Dr. Daniel Staffel 5 – Arztroman. Marie Francoise
Schrei aus, daß Helmut vor Schreck buchstäblich wie gelähmt war. Mit einer erneuten raschen Bewegungsfolge machte Dr. Parker ihn vollständig kampfunfähig und hielt ihn am Boden fest. Natürlich waren die vor der Tür wartenden Polizisten auf den Tumult aufmerksam geworden und stürmten jetzt in den Operationssaal, doch dort gab es für sie kaum noch etwas zu tun. Sie mußten Helmut lediglich Handschellen anlegen und ihn abführen.
»Das war ganze Arbeit«, meinte einer der Beamten anerkennend. »Wir wären Ihnen gern früher zu Hilfe gekommen, aber Dr. Metzler hat uns zurückgehalten. Wir durften nicht riskieren, daß der Kerl hier wie wild herumschießt.«
»Das ist schon in Ordnung«, meinte Dr. Daniel. »Aber würden Sie den Raum jetzt bitte verlassen. Wir haben hier einen Eingriff zu beenden.«
Dr. Parker ließ sich von der OP-Schwester keimfreie Handschuhe überstreifen, dann ging er wieder an seine Arbeit, als hätte er nicht eben gerade eine Meisterleistung in Karate vorgeführt. Auch Dr. Daniel merkte man die ausgestandene Angst kaum an. Nur seine Hände zitterten ein wenig, während er die Wunde schloß.
»Herr Doktor, es war meine Schuld«, flüsterte Schwester Petra plötzlich. Leise und immer wieder stockend erzählte sie, wie Helmut Heidenrath sie auf dem Flur der Station angesprochen hatte. Und dann ließen ihre Nerven sie plötzlich im Stich. Sie begann am ganzen Körper zu zittern und brach in unkontrolliertes, heftiges Schluchzen aus.
»Jeff, bringen Sie Frau Heidenrath in den Aufwachraum«, ordnete Dr. Daniel an, dann legte er fürsorglich einen Arm um Petras Schultern und führte sie hinaus. »Niemanden trifft an dem, was gerade geschehen ist, irgendeine Schuld. Sie kannten Herrn Heidenrath nicht und konnten daher auch nicht vorhersehen, wie schlimm er reagieren würde. Ich will ganz ehrlich sein: Auch ich hätte mit einem so massiven Vorgehen seinerseits nicht gerechnet. Dafür wird er sich allerdings nun verantworten müssen.«
»Es wäre nie passiert, wenn ich…«, schluchzte Petra. Die ausgestandene Angst und ihre eigene Überzeugung, an allem, was passiert ist, die Schuld zu tragen, waren eindeutig zuviel für sie.
Dr. Daniel sorgte dafür, daß sich die OP-Schwester nebenan im Untersuchungsraum hinlegte, dann spritzte er ihr ein starkes Beruhigungsmittel, das sie fast augenblicklich einschlafen ließ.
»Eine solche Situation erlebt man auch nur selten«, meinte Dr. Parker, der jetzt ebenfalls in den Untersuchungsraum trat.
»Glücklicherweise«, ergänzte Dr. Daniel. »Ich muß gestehen, daß ich auch ziemlich fertig bin. Mit dem Lauf einer Schrotflinte an der Stirn operiert es sich nicht ganz so leicht.« Er sah Dr. Parker an, der völlig ruhig wirkte. »Ihnen scheint das alles ja gar nichts ausgemacht zu haben.«
»Täuschen Sie sich nicht. Innerlich bin ich im Moment das reinste Nervenbündel«, gestand der junge Arzt. »Wissen Sie, wenn mein erster Schlag danebengegangen wäre, dann hätte der Kerl einen von uns niedergeschossen.« Er brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Ich schätze, ich werde mich jetzt auch zu einem Beruhigungsmittel überreden lassen.«
Da legte Dr. Daniel ihm eine Hand auf die Schulter. »Was Sie da drinnen geleistet haben, Jeff, das war sagenhaft. Meine Tochter hat mir ja schon einmal erzählt, wie gut Sie als Karatekämpfer auftreten, aber das mitzuerleben… ich muß gestehen, Ihr Schrei ist sogar mir durch Mark und Bein gegangen.«
Dr. Parker lächelte. »Das ist bei dieser Art des Kampfsports auch der Sinn der Sache. Allerdings ist es ein gewaltiger Unterschied, ob man einen Wettkampf im Verein durchsteht oder ob der Gegner eine geladene Waffe in der Hand hält.« Er schwieg einen Moment, und Dr. Daniel sah, wie es in seinem Gesicht zu zucken begann. »Sie entschuldigen mich jetzt, Robert, ich muß gehen, denn ich möchte hier vor Ihnen nicht gern die Fassung verlieren.«
»Machen Sie sich darum keine Sorgen, Jeff«, entgegnete Dr. Daniel. »Legen Sie sich im Ärztezimmer hin, dann gebe ich Ihnen auch eine Spritze.«
»Und Sie?« wollte Dr. Parker wissen.
»Ich werde mich ebenfalls zurückziehen«, gab Dr. Daniel zu. »Einen derartigen Überfall habe ich noch nicht erlebt. Was Herr Heidenrath gemacht hat, geht auch an mir nicht spurlos vorüber.«
*
Unmittelbar nach dem Gespräch mit dem neuen Steinhausener Kinderarzt hatte Dr. Scheibler Nachforschungen angestellt, und das Ergebnis bewog ihn, noch am selben Tag nach München zu fahren, um Kurt und Christa Gerlach aufzusuchen.
»Was wollen Sie denn hier?« fragte Kurt unfreundlich.
»Mit Ihnen über Rudis Adoption sprechen«, antwortete Dr. Scheibler ohne Umschweife.
»Ich habe Ihnen schon gesagt…«, begann Kurt, doch Dr. Scheibler fiel ihm sofort ins Wort. »Ich kann Ihnen das, was ich über Sie herausgefunden habe, auch hier vor dem Gartentor sagen, aber an Ihrer Stelle würde ich mir das lieber ganz genau überlegen.«
Kurt zögerte noch einen Moment, dann ließ er Dr. Scheibler eintreten.
»Sie haben jeden Monat einen stattlichen Betrag kassiert, der eigentlich Rudi zugute kommen sollte«, erklärte Dr. Scheibler, kaum daß er im Wohnzimmer Platz genommen hatte. In seinen Augen war es unsinnig, noch lange um den heißen Brei herumzureden. »Daß das nicht geschehen ist, wissen Sie wohl besser als ich.«
Christa und Kurt erröteten zutiefst – eine deutlichere Antwort hätten sie gar nicht geben können.
»Ich könnte mit dem, was ich weiß, auch vor Gericht gehen«, fuhr Dr. Scheibler fort, »aber ich denke, wir können uns auch so einigen. Rudi soll endlich ein Zuhause bekommen, das diesen Namen verdient, und ich gehe davon aus, daß Sie meiner Frau und mir keine Schwierigkeiten mehr machen werden, wenn wir die Adoption beantragen.«
Kurt und Christa wechselten einen kurzen Blick.
»Nein, Herr Dr. Scheibler, ich denke nicht«, murmelte Kurt. »Im Grunde wollten wir ja nie ein Kind.«
Dr. Scheibler nickte. »Rudi kann in ein paar Tagen aus der Klinik entlassen werden. Ich werde ihn dann gleich zu mir nehmen.«
»Und das Geld?« entfuhr es Christa.
»Darauf verzichte ich«, antwortete Dr. Scheibler, aber noch bevor sich auf Christas Zügen ein erfreutes Lächeln ausbreiten konnte, fügte er hinzu: »Ich werde dieses Geld für Rudi anlegen. Wenn er achtzehn ist…«
»Dann ist er doch sowieso steinreich!« fiel Christa ihm mit schriller Stimme ins Wort. »Was wir bekommen haben, waren doch nur die Zinsen seines Vermögens!«
»Spielt das vielleicht eine Rolle?« fragte Dr. Scheibler zurück, dann stand er auf. »Mir ist es vollkommen egal, wie reich Rudi einmal sein wird. Wichtig ist für mich allein, daß er ab jetzt eine glückliche Kindheit haben wird, denn das zählt sehr viel mehr als alles Geld der Welt.«
Damit verließ er das Haus der Gerlachs und kehrte nach Steinhausen zurück. Als er Rudis Krankenzimmer in der Waldsee-Klinik betrat, huschte ein seliges Strahlen über das schmale Kindergesicht.
»Gerrit!«
Liebevoll nahm Dr. Scheibler den Jungen in die Arme.
»Jetzt wird alles gut, Rudi«, versprach er leise. »Bald bist du gesund, und dann darfst du nach Hause kommen.«
»Nach Hause?« wiederholte Rudi gedehnt und sah dabei gar nicht so glücklich aus.
Dr. Scheibler nickte lächelnd. »Ja, Rudi, zu Steffi und mir. Mit Hilfe von Dr. Leitner habe ich es endlich durchgesetzt, daß wir dich adoptieren dürfen.«
Da ging in Rudis Gesicht die Sonne auf. »Dann habe ich ja endlich wieder Eltern! Und Dani ist meine kleine Schwester. Ich habe mir immer eine kleine Schwester gewünscht.«
Erneut nahm Dr. Scheibler den Jungen in den Arm. »Wir vier werden jetzt eine glückliche kleine Familie sein. Und wer weiß? Vielleicht bekommst du irgendwann sogar noch ein paar Geschwisterchen mehr.«
»Wir sind bereits dabei, uns zu vergrößern«, erklärte Stefanie, die von Gerrit und Rudi unbemerkt das Zimmer betreten und die