Hans Hyan-Krimis: Der Rächer, Das Rätsel von Ravensbrok & Mord im Bankhaus Lindström. Hans Hyan
Sie ...« Das Mädchen stemmte die prallen Arme, die ihre blaue Bluse mit den weitfaltigen Ärmeln ganz frei ließ, in die runden Hüften. Ihre merkwürdig hellen Augen, in denen das Leben leidenschaftlich funkelte, machten den jungen Beamten verwirrt, daß er die Worte nicht fand für das, was er so gern sagen wollte.
Er wollte sagen, daß er ganz und gar nicht fremd diesem Treiben sei, daß er keineswegs nur als ein müßiger Zuschauer hierherkomme, sondern, daß es sein Wunsch, sein heißer Wunsch wäre, mit all' den anderen hier zu toben, zu schreien und ihr Leben ganz mitzuerleben.
»Na, tanzen kann er wohl auch nich?« fragte das Mädchen, von dem ein verwirrender Hauch, etwas, das den Mann in Heinz Marquardt gegen seinen Willen anzog und verlockte, ausging.
Sie sagte noch etwas, aber der infernalische Lärm verschlang jedes Wort, und plötzlich hielt Heinz ihre blühende Gestalt umfaßt und schwang sich mit ihr im Reigen.
Er war früher vor seiner Ehe ein leidenschaftlicher Tänzer und auf den Vereinskränzchen und Bällen vor allen anderen begehrt gewesen. Aber so zu tanzen hatte er doch nicht gelernt. Ihm war, als sei er hier die Tänzerin. Mit einer Geschicklichkeit und Kraft ohnegleichen führte ihn das Mädchen. Die anderen Paare wechselten, sie aber tanzten immer weiter, rastlos, atemlos, ganz der berauschenden Raserei dieses tollen Wirbelns hingegeben.
Als sie endlich stille standen, hielt sie ihn noch immer umfaßt, lachte ihn schmeichelnd an und sagte:
»Na, so tanzte woll sonst nich, was, du?«
Er lachte auch und sagte ein paar dumme, nichtsbedeutende Worte.
Da scholl eine Riesenstimme aus dem Dampf:
»Setzen, setzen ... Jetzt kommt Herkules, der stärkste Mann der Welt! ... Hebt drei Zentner mit 'n Bauch und bezwingt sojar seine Schwiegermutter!«
»Paß mal uff!« meinte Aprikosenjuste, »wat der vor Kräfte hat! ... Dis is was anders, wie die Fiolenschieber in' Zirkus!«
Inzwischen war in der Mitte ein freier Platz geschaffen und eine alte Seegrasmatratze auf den Boden gelegt worden, dessen aufsteigender Staub sich mit dem Qualm mischte.
Heinz Marquardt sah, obschon er hinten an der Wand saß, alles recht gut und wandte sich unwillig zur Seite, als jetzt dicht neben ihm jemand sagte:
»Wat willst du denn hier? ... Du markierst doch nich etwa 'n Achtjroschenjungen?«
Heinz Marquardt verstand den Ausdruck kaum und wurde sich so auch der Gefahr nicht bewußt, die für ihn in dem Verdacht des andern lag. Aber ehe er noch etwas erwidern konnte, nahm sich Aprikosenjuste seiner an und sagte patzig:
»Bist du hier als Uffpasser anjestellt, Husarenwilhelm? Du siehst doch, det ick mit den Mann hier sitze!«
Aprikosenjuste nahm zärtlich über den Tisch hinweg die Hand ihres neuen Freundes, und Husarenwilhelm verlor sich zwischen den übrigen.
Währenddessen gab Herkules seine in der Tat von großer Kraft und Gewandtheit zeugenden Produktionen zum besten.
Und er wollte eben mit einem Konkurrenten zum ersten »Gang« antreten, als sich ein furchtbarer Tumult erhob und alles nach dem ganz hinten am Ende des niederen Saales befindlichen Schanktisch zudrängte ...
Auch Marquardt wollte sich neugierig erheben, aber das Mädchen hielt ihn zurück.
»Laß doch! Da haben sich zwee jefaßt, was is 'n da weiter bei! Sowas passiert hier alle paa' Minuten! ...«
Wirklich legte sich gleich darauf der Tumult, eine Seitentür ging auf, irgend jemand flog 'raus, und gleich darauf schrien alle Anwesenden laut und freudig erregt:
»Theodor! ... Theodor! ... Theodor soll singen!«
Der Wirt hatte das »Kabarett« betreten.
Es war ein kleiner, stark gebauter Mann, dem das rechte Ohr fast ganz und zwei Finger der rechten Hand zur Hälfte fehlten. Außerdem lahmte er sehr, und durch das ziemlich kurzgehaltene, schwarze Haupthaar zog sich ein weißer Hautstreif, sichtlich von einer Narbe herrührend, die ein fürchterlicher Hieb dort zurückgelassen hatte. Der solchermaßen »vabubanzte« Theodor trug über einer schwarz-weiß karierten Hose eine blutrote Samtweste und über dieser ein schwarzes Samtjackett mit großen Silberknöpfen.
Er schüttelte einige Dutzend Hände, die sich ihm entgegenstreckten, lächelte geschmeichelt auf die immer wiederholte Bitte, er möchte singen, und sprang dann mit einem Satz auf einen Tisch ganz in Marquardts Nähe.
Sofort trat absolute Ruhe ein.
Er begann;
»Das Lied von meine Leiden.«
Und dann sang er:
»Ick stamme wie wir alle aus de Renne,
Mein Vater war ein Herr von Irjendwo,
Und meine Mutter hieß in ihre Penne
Nicht anders wie der Floh! Der kleene Floh! ...«
Sofort fiel der ganze Chorus unter Johlen und Lachen ein:
»Der Floh! der Floh! der janze kleene Floh! ...«
Dann fuhr der vabubanzte Theodor, der in vollster Ruhe, höchstens mit einer Handbewegung oder mit einer Grimasse diesen Vortrag begleitete, fort:
»Ick war noch kleen, da jing se schon machulle 14, Det Schicksal ist mit unsereenen roh! Se hintaließ ma' eene Jilkapulle Un eenen Floh! Un eenen Floh! ...«
Sofort fielen alle wieder ein:
»Un eenen Floh! 'n janzen kleenen Floh! ...«
Eben wollte der Sänger, der seine hübsche Stimme im Refrain zu hohen Kopftönen preßte, von neuem anfangen, als in dem Türrahmen oben auf dem Gange einige Gestalten erschienen, die allgemeine Aufmerksamkeit erregten.
Der erste, der die Treppen hinabstieg, war ein großgewachsener, bürgerlich gekleideter Mann, und die der kleinen Treppe am nächsten Sitzenden sagten respektvoll »Juten Abend, Herr Kommissar!« zu ihm. Er ging ruhigen Schrittes ins Lokal hinein, während die beiden anderen Herren auf der Treppe zögerten.
Dem einen von den beiden sah man den Aristokraten ohne weiteres an, der gewiß, blasiert von jeglichem Lebensgenuß, sein Amüsement einmal bei den Antipoden seines Standes, den Ausgestoßenen und Verfemten, suchen wollte.
Er war schlank und sehnig und trug sich, wie viele der Gardekavallerieoffiziere, ein klein wenig vornüber. Im übrigen sah man unter seinem kurzen Demi-Saison den Frack und das weißpaspelierte Gilet mit der schmalen, goldenen Kette. Um das Handgelenk der Rechten, die soeben leicht an den glänzenden Zylinder griff, spannte sich auch feines Gold, das ein großer Diamant verschloß.
Husarenwilhelm, an dem er dicht vorbeistreifte, sah das wohl oder vielmehr er witterte es, wie Raubtiere die Beute.
Der dritte, der oben gestanden hatte, war für einen Moment zurückgegangen. Aber schon tauchte er in der Öffnung des schmalen Ganges wieder auf, eine Dame am Arm.
Von weitem sah diese Frau aus wie eine ganz junge Schönheit. Sie war groß und sehr gut gewachsen, in der Figur jedenfalls tadellos, obwohl der dicke Pelzmantel das nur halb erkennen ließ. Ihr Haar war ausgesprochen rot und zu einer wundervollen, mit Goldpuder bestreuten Frisur aufgebaut, in der Edelsteine funkelten. Der vorn offene Mantel ließ den schlanken Hals sehen, und die Farbe der Haut war weiß wie Frühlingsblumen.
Aber auch ihr Gesicht war blendend ... ja so blendend, daß nur der Kenner, und auch dieser erst bei genauerem Hinsehen, die hier in raffinierter Weise aufgewendeten Toilettenkünste merkte.
Und dazu die Stimme!
Einem blühend rosigen Samt glich dieses sanfte, wie aus einer reinen Kinderseele aufquellende Organ.
Was sie sagte, war nichts weiter als:
»Wir sind doch auch hier ganz sicher, Egon, ja?«
Als