TESLAS GEHEIMNIS (Project 5). Alex Lukeman
»Nick«, sagte sie. »Nick.«
Sie schloss die Augen. Blut rann ihr aus dem Mund. Sie atmete nicht mehr.
Wellen von Kummer und Wut spülten über ihn hinweg. Er riss den Kopf nach oben und schrie.
Jemand schüttelte ihn. Er erwachte, schnappte nach Luft. Seine Wangen waren feucht, und sein Herz hämmerte so wild in seiner Brust, als versuchte es sich einen Weg hinaus zu bahnen.
Selena griff nach seinem Arm. Auf dem Wecker neben dem Bett war es 03:07 Uhr.
»Nick, du hast geschrien. Du hattest wieder einen Albtraum.«
Er hatte Selena von seinem Afghanistan-Traum erzählt. Die anderen Träume hatte er nie großartig erwähnt. Sie begannen, als er zwölf Jahre alt gewesen war. Sie kamen nicht sehr oft. Er verstand immer erst später, was sie bedeuteten. Sie handelten nie von etwas Gutem und immer von etwas, das noch nicht passiert war. Diese Träume besaßen eine eigentümliche Intensität, eine Strahlkraft.
So wie jener, der er gerade geträumt hatte.
Es war eine übersinnliche Begabung, die er von seinen irischen Vorfahren geerbt hatte. Seine Großmutter hatte ihm erzählt, dass man es die Vorsehung nannte und ihm all diese dunklen Weissagungen und Warnungen in den Kopf gesetzt. Nick schätzte, dass sie den gleichen Ursprung wie sein Ohrenjucken hatten, welches immer dann auftrat, wenn Gefahr drohte.
»Verdammt«, sagte er und rieb sich über sein Gesicht.
»Wieder Afghanistan?«
»Nein.«
Sie wartete.
Nick schwieg. Das Bild seiner Hände, die versuchten, ihr Blut zurückzuhalten, wollte ihm nicht aus dem Kopf.
»Du kannst so nicht weitermachen«, sagte sie.
»Womit?«
»Zu versuchen, ganz allein mit diesen Träumen fertigzuwerden. Du musst jemanden aufsuchen.«
»Ich will nicht, dass jemand in meinem Kopf herumspukt. Ich komme schon klar.«
»Du bist so ein sturer Bock.« Am liebsten hätte sie ihn geschüttelt. Stattdessen aber sagte sie: »Lass uns wieder ins Bett gehen.«
»Wir sind schon im Bett. Ich glaube nicht, dass ich wieder einschlafen kann.«
»Von Schlafen habe ich nichts gesagt. Nimm nicht immer alles so wörtlich.«
Später sollte er doch noch einmal einschlafen.
Kapitel 11
Präsident James Rice wartete am Rand der Bühne des Lakeside Buildings in Chicagos Kongresszentrum. Mit halbem Ohr hörte er seinem Vizepräsidenten zu, der gerade die Menge an Delegierten und treuen Parteianhängern anheizte. Hinter der Bühne waren Agenten des Secret Service postiert, weitere drehten vor der Bühne ihre Runden.
In wenigen Minuten würde Rice die Nominierung seiner Partei für eine zweite Amtszeit annehmen. Fünfzig Millionen Zuschauer würden die Übertragung verfolgen. Umfragen zufolge lag er sieben Prozent hinter seinem Gegner. Hinter den Kulissen war die Stimmung angespannt und sein Lager gespalten, was die weitere Wahlkampfstrategie anbelangte.
Jeder wartete gespannt darauf, was Rice zu sagen hatte. Über die endlosen Probleme in Afghanistan und dem Mittleren Osten, die wachsenden Spannungen mit dem Iran und Russland und China. Über die Jobsituation und eine Wirtschaft, die in ernsten Schwierigkeiten steckte. Die Medien wetzen bereits ihre Messer.
Es spielte keine Rolle mehr, dass Rice das Land vor einem dritten Weltkrieg bewahrt hatte und vor einem Jahr nur knapp einem Mordversuch entronnen war. Die Öffentlichkeit interessierte nur, was er in der letzten Zeit für den kleinen Mann getan hatte. Kennedys berühmte Worte, dass es nicht darauf ankäme, was das Land für einen selbst tun könne, waren längst vergessen.
Sein Kontrahent kannte keinerlei Skrupel, Rices Bilanz zu verfälschen. Senator Richard Carino verdrehte die Fakten, wie es ihm gerade passte, und warf wie mit Konfetti mit willkürlich erfundenen Zahlen und sorgfältig einstudierten Phrasen um sich. Lautstark zog er über das enorme Defizit und die Kriege her, ohne irgendwelche Alternativen zu nennen oder Verantwortung für die aktuelle Lage übernehmen zu wollen. AEON hatte hunderte Millionen Dollar investiert, um Rice aus dem Amt zu drängen. Seine Wiederwahl war ernsthaft gefährdet.
Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt. Kevin Hogan, Rices Chief of Staff, stand neben dem Präsidenten. Hogan war ein waschechter Politprofi. Und so sah er auch aus – ein gerissener Berater, den die nicht zu leugnende Aura eines mächtigen Mannes umgab. Er versuchte die Ruhe zu bewahren. Von seiner Rede an diesem Abend würde einiges abhängen.
»Nur noch eine Minute, Mister President.«
»Wie ist mein Make-up?«
»Gut, Sir. Keine Sorge, es wird Ihnen nicht wie Nixon ergehen.«
Rice lächelte. »Das hoffe ich.«
Hogan stieß ein schwaches Lachen aus. In der allerersten Fernsehdebatte zwischen Kennedy und Nixon hatte dieser in den Schwarz-Weiß-Fernsehern so ausgesehen, als würde er dringend eine Rasur brauchen. Wie ein Mann, dem man keinesfalls vertrauen durfte. Das war ein schlechter Tag für das Land gewesen, denn mit diesem Tag war das Fernsehen zu einem entscheidenden Faktor darin geworden, Amerikas Politik zu formen.
Auf der Bühne beendete der Vize-Präsident seine Rede. Mit einer ausladenden Geste drehte er sich zum Rand der Bühne um.
»Und damit, meine lieben Landsleute, übergebe ich an den Präsidenten der Vereinigten Staaten.«
»Showtime, Mr. President.« Hogan lächelte Rice ermutigend zu. »Zeigen Sie es ihnen, Sir.«
Auf sein Stichwort hin hallten die Marschklänge von Hail to the Chief durch den Saal. Rice schritt auf die Bühne, sah in die Menge, winkte. Geblendet von den Scheinwerfern stolperte er über ein Kabel.
Rice hörte den Schuss als Erster und spürte den Windhauch, als die Kugel an seinem Hinterkopf vorbeipfiff. Im Publikum brach Chaos aus. Sofort wurde Rice unter einem Berg von Secret-Service-Agenten begraben. Er hörte einen zweiten Schuss und spürte, wie dieser den Mann über ihm traf. Der Agent schrie auf. Blut spritzte über die Bühne.
Sein Personenschutz beantwortete die Schüsse mit einer Salve. Irgendwo über ihm ratterte eine automatische Waffe. Für einen kurzen Moment war er wieder in Vietnam. Kugeln peitschen in das lebende Schutzschild, welches sich auf ihm stapelte. Die Schüsse zerrissen den Teppich und ließen das Podium zersplittern, an dem er seine Rede hätte halten sollen. Der Schütze hielt sich irgendwo in der Dunkelheit hinter den Scheinwerfern versteckt.
Er spürte den Schock, als eine Kugel seinen Arm traf, und erst danach den Schmerz. Eine weitere heftige Salve seiner Leibwächter brandete auf. Dann hörten die Schüsse plötzlich auf. Starke Arme zerrten die Körper von ihm herunter, halfen Rice auf die Beine und eilten mit ihm von der Bühne.
Kevin Hogan lag in einer Lache aus Blut auf dem Boden. Die Nähe zur Macht hatte ihren Preis.
Kapitel 12
Michael Healy fürchtete niemanden. Das einzige ihm bekannte Gefühl, welches Angst am nächsten kam, war Nervosität. Und jetzt war er nervös. Er hatte es vermasselt. Die letzten drei Aufträge von Foxworth waren gründlich in die Hose gegangen. Dabei spielte es auch keine Rolle, dass nicht er es gewesen war, der vor Ort scheiterte. Er war für die Missionen verantwortlich.
»Rice ist noch am Leben.« Foxworth sah ihn an. »Zum Glück für Sie ist der von Ihnen ausgewählte Mann tot. Genau wie die Personen, die Sie gegen Harkers Team aussandten. Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Für die Sache mit Harkers Leuten gibt es keine Entschuldigung. Bei Rice hatten wir einfach nur Pech. Er stolperte