Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Eine Wagenkolonne stand vor ihm. Er stoppte und sprang aus dem Wagen. Er vernahm erregte Stimmen, in die sich angstvolle und stöhnende Schreie mischten.
»Was ist geschehen?«, fragte er einen Mann.
»Ein Bus ist in den Zug gerast«, schrie der aufgeregt zurück.
»Mein Gott, mein Gott, die armen Kinder«, rief eine Frau, die die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte.
»Er hat die Schranke nicht geschlossen«, rief eine andere.
Mechanisch nahm Daniel seinen Arztkoffer, den er immer mit sich führte, aus dem Wagen. »Ich bin Arzt«, sagte er tonlos. »Geben Sie mir bitte den Weg frei. Wann ist das passiert?«
»Vor ein paar Minuten«, erwiderte jemand.
Wenig später sah er die Stätte des Grauens und hielt den Atem an. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er an Fee und was es für sie bedeuten würde, dies sehen zu müssen, sie, die doch auch Ärztin war.
Metallteile, Kleiderfetzen – Grauen, nur Grauen sah er. Aber er war Arzt. Wenn man Hilfe brauchte, mussten Erschütterung und menschliche Erregungen zurückgedrängt werden.
»Dr. Norden!«, rief eine Stimme von irgendwo, doch sie ging unter im Lärm des landenden Rettungshubschraubers. Auch er hörte sie nicht. Er ging dem Stöhnen und Weinen nach, das an seine Ohren drang. Er sah im Gebüsch eine Frau liegen und unweit ein kleines Kind. Er bemerkte, dass beide lebten, und vielleicht entschieden die nächsten Sekunden schon darüber, ob diese beiden Leben erhalten bleiben konnten.
Eine fremde Stimme fragte ihn, ob man denn helfen könne. »Ich habe nämlich einen Kombiwagen«, sagte der grauhaarige Mann, der sich jetzt neben Daniel niederkniete.
»Helfen Sie mir, diese beiden in die Klinik zu bringen«, sagte Daniel.
»Gern, Herr Doktor. Es ist ja so schrecklich!«
Wie unterschiedlich die Menschen unter einem solchen Schock reagierten, wurde Daniel Norden in diesen Minuten nicht bewusst. Ihm zur Seite stand ein Mann, dem fremdes Leben mehr wert war, als sein neuer Wagen, als seine Polster, die bald vom Blut einer jungen Frau und eines Kindes rotgefärbt wurden.
Ein Mann, mindestens sechzig Jahre alt, steuerte seinen Wagen zur Behnisch-Klinik, wie Daniel es ihm geheißen hatte. Ein Mann, den nicht Sensationsgier in Bann geschlagen hatte, sondern der Leben retten wollte, genau wie er.
Er war von ihm mit seinem Namen angesprochen worden. Und als sie die Frau und das Kind in seinem Wagen getragen hatten, sagte er: »Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie nicht lange fackeln und erst Fragen stellen. Da kann es doch manchmal um Minuten gehen.«
Und wie oft dauerte es viel zu lange, bis ärztliche Hilfe kam. Gerade bei Katastrophen wurde später darüber immer wieder Kritik laut.
Daniel Norden dachte jetzt nicht darüber nach. Das Kind begann sich schon zu regen. Es schrie nach seiner Mami. Die junge Frau war bewusstlos, aber das Schreien holte sie für Sekunden ins Leben zurück.
»Mein Kind«, murmelte sie, »mein Kind«, dann wurde sie wieder bewusstlos.
Sie waren bei der Behnisch-Klinik angelangt. Dort war man bereits in Alarmzustand versetzt, wie alle anderen umliegenden Kliniken auch. Noch wusste man ja nicht, wie viele Tote und Verletzte es gegeben hatte.
»Dich erwischt es aber auch immer«, sagte Dr. Dieter Behnisch zu seinem Freund Daniel.
»Mich hat’s zum Glück nicht erwischt«, brummte Daniel. »Um ein paar Minuten«, und dabei dachte er an Fee, die ihn mit ihren Abschiedsküssen diese Minuten aufgehalten hatte.
Schwester Melanie hatte sich des Kindes angenommen, das fast noch ein Baby war. Es war ein kleiner Junge mit gelocktem Haar, bestens gekleidet, wenngleich die Sachen, genau wie er, auch jetzt schmutzverkrustet waren. Aber außer ein paar Schrammen schien er ganz wie durch ein Wunder keine Verletzungen davongetragen zu haben.
Die junge Frau hatte es schlimmer erwischt. Ihre Kleidung war arg mitgenommen, und sie hatte eine beträchtliche Menge Blut verloren, dazu schwere Prellungen erlitten und einen Unterarmbruch. In Anbetracht der Katastrophe würde aber auch sie von Glück sagen können, so davongekommen zu sein, wenn sie erst wieder zu sich kommen würde.
Schwester Melanie hatte das Kind beruhigt. Es jammerte jetzt nur noch leise nach seiner Mami und schien müde zu sein.
Dr. Jenny Lenz hatte Dr. Behnisch assistiert und blieb bei der jungen Frau, nachdem sie ärztlich versorgt worden war. Nun wurden auch andere Verletzte gebracht, und jeder in der Klinik wurde gebraucht.
Dr. Norden rief in seiner Praxis an. Molly meldete sich schon aufgeregt und brach gleich verschreckt in Tränen aus, als er ihr sagte, was geschehen war, beruhigte sich aber schnell, als sie erfuhr, dass Fee auf der Insel geblieben war. Sie musste den wartenden Patienten nur erklären, warum der Doktor die Sprechstunde nicht pünktlich beginnen konnte.
Indessen kamen schon die ersten Radiomeldungen über das Unglück, und Fee hörte sie. Schreckensbleich lief sie zu ihrem Vater, der schnell sein Radio ausschaltete, als sie hereinkam.
»Ich habe es schon gehört, Paps«, flüsterte sie. »Es ist unsere Strecke. Daniel muss etwa zu der Zeit dort gewesen sein.«
»Beruhige dich, Kindchen«, sagte Dr. Cornelius, der seine eigene Erregung kaum verhehlen konnte. »Ich rufe gleich in der Praxis an.«
Dort war das Telefon dauernd besetzt, und Dr. Cornelius war heilfroh, als er Molly endlich an den Apparat bekam, denn Fee bebte am ganzen Körper und war außer sich vor Angst. In ihrem Zustand war das bedenklich, aber als Dr. Cornelius dann erfuhr, dass Daniel in der Behnisch-Klinik mit Erste Hilfe leistete, war er erleichtert, dass Fee nicht mit ihm gefahren war. Der grässliche Anblick hätte schlimmere Folgen haben können als die Minuten der Angst.
Auch einem Mann, von dem sie bis zu diesem Tage noch nicht gehört hatte, blieb fast das Herz stehen, als er aus dem Autoradio die Meldung hörte.
Er fuhr an den Straßenrand und stoppte. Penny und Tim waren in diesem Zug. Er hatte sie selbst zum Bahnhof gefahren.
»Warum sollst du erst diesen Umweg machen, Dirk«, hatte Penny gesagt. »Tim macht es sicher Spaß, mit der Eisenbahn zu fahren, und du bist schon an der Grenze, wenn der Verkehr dort richtig losgeht.«
Er, Dirk Holzmann, Verkaufsleiter der Schott-Gesellschaft, hatte eine kurze Geschäftsreise nach Wien machen müssen. Die drei Tage seiner Abwesenheit wollte Penny dann mit dem kleinen Tim bei seinen Eltern verbringen.
Dirk wurde es schwarz vor Augen. Er konnte minutenlang keinen klaren Gedanken fassen, dann aber wendete er seinen Wagen und fuhr zurück. Wie hätte er auch weiterfahren können, ohne zu wissen, was mit Penny und Tim war. »Mein Gott, hätte ich sie doch nur hingebracht«, murmelte er unaufhörlich.
Vielen Menschen erging es ähnlich wie ihm an diesem Morgen. Und manch einer wusste bereits, dass jede Hoffnung auf ein Wiedersehen mit einem geliebten Menschen vergeblich war. Mütter weinten um ihre Kinder, Frauen um ihre Männer, ein dürsterer Schatten des Grauens breitete sich über die Unglücksstätte, als Dirk Holzmann sie erreichte. Und dann begann das Suchen nach seiner Frau und seinem Kind, die entsetzlichsten Stunden seines Lebens, das bisher so glücklich und unkompliziert verlaufen war. Ein Telefongespräch mit seinen Eltern nahm ihm die winzige Hoffnung, dass Penny sich bei ihnen gemeldet haben könnte.
Es wurde später Nachmittag, bis er erfuhr, dass seine junge Frau schwerverletzt ins Kreiskrankenhaus eingeliefert worden war, doch von seinem kleinen Tim hatte man keine Spur gefunden. Es war nicht zu beschreiben, was Dirk Holzmann durchmachte, als man ihm Kleiderfetzen zeigte, einen winzigen Schuh, ein kleines, ensetzlich zugerichtetes Bündelchen, das er nicht ansehen konnte. Der Schock war zu entsetzlich! Und wie hätte es ein Trost für ihn sein können, dass es vielen anderen ebenso erging an diesem Tage wie ihm.
Er musste sein Kind, seinen geliebten kleinen Tim verloren geben. Pennys junges, blühendes Leben hing an einem hauchdünnen Faden. Es würde sofort verlöschen, wüsste sie, dass es keinen Tim mehr gab.