Dr. Norden Bestseller Paket 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
da ein Bild zu machen. Ihre Reaktionen sind unterschiedlich, aber ich bin überzeugt, dass sie ein Kind hatte oder hat und dass sie eines verloren hat. Sie spricht, oder besser sie sprach von einem Jungen, Toby, und von einem Mädchen. ›Mein armes, kleines Mädchen‹, sagte sie. Hier, du kannst die Notizen lesen, die ich mir gemacht habe.«
Daniel las sie aufmerksam und sah Jenny nachdenklich an. »In der Schockwirkung mischen sich Wahrheit und Vorstellung. Aber immerhin sind wir doch schon einen Schritt weiter. Wenn der Name stimmt, werden wir die Angehörigen ausfindig machen.«
»In einem solchen Zustand, in einer so furchtbaren Konfliktsituation, ist es nur ein winziger Schritt zum Wahnsinn«, sagte Jenny gedankenvoll. »Erstaunlich ist allerdings ihr Lebenswille. Diese Frau will nicht kapitulieren. Ich bin sehr gespannt, was wir da noch erfahren werden.«
*
Etwa zur gleichen Stunde betrat ein schlanker, mittelgroßer Mann das Sanatorium Breitenstein. Man konnte hier nicht einfach hineinspazieren. Ein gewichtiger Mann öffnete die schwere Eichentür. Bestürzt blickte er den Mann an.
»Herr Blohm?«
»Erkennen Sie mich nicht? Ich möchte meine Frau besuchen.«
»Ich werde den Chefarzt verständigen«, stotterte der Mann.
»Was ist mit meiner Frau? Hat sich ihr Zustand wieder verschlechtert?«
»Der Herr Chefarzt wird Ihnen schon Auskunft geben«, brummte der Mann verlegen.
Bert Blohm wartete in der kühlen Halle. Es fröstelte ihn. Kann man hier denn gesund werden, ging es ihm durch den Sinn.
Er musste ziemlich lange warten, dann sah er sich dem grauhaarigen Chefarzt gegenüber, der einen wahnsinnig nervösen Eindruck machte.
»Ist Ihre Frau denn nicht zu Hause angekommen?«, fragte er.
»Zu Hause angekommen?«, wiederholte Bert Blohm mechanisch. »Wie meinen Sie das?«
»Wir haben sie doch vor drei Tagen entlassen. Es bestand keine Veranlassung, sie noch hier festzuhalten. Sie hatte außerdem ihren Anwalt eingeschaltet, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie nicht zu Ihnen zurückkehren wollte. Sie hatte Sehnsucht nach ihrem Sohn.«
»Warum haben Sie mich nicht benachrichtigt?«, fragt Bert Blohm erregt.
»Ich hatte mit Ihrer Mutter schon telefoniert. Aber sie sagte mir, dass Sie augenblicklich nicht erreichbar seien.«
»Aber Sie konnten meine Frau doch nicht einfach gehen lassen, so allein«, sagte Bert Blohm.
»Es passierte eine Panne«, gestand der Chefarzt ein. »Irgendwie gelangte Ihre Frau aus dem Haus und war verschwunden. Sie können mir dennoch keinen Vorwurf machen. Ihre Frau ist gesund. Ich hätte mich strafbar gemacht, sie länger hier festzuhalten, und falls Sie etwas gegen mich unternehmen wollen, muss ich Ihnen sagen, dass ich Gegenmaßnahmen ergreifen werde.«
»Welcher Art?«, fragte Bert Blohm kalt.
»Dass in Ihrem Haus alles getan wurde, um den Geist Ihrer Frau zu verwirren.«
»In meinem Hause? Sind Sie denn auch wahnsinnig? Natürlich, hier muss man das ja werden«, brauste Bert auf.
»Dann wundert es mich, dass Sie Ihre Frau ausgerechnet hierhergebracht haben«, konterte der Chefarzt aggressiv.
»Meiner Mutter war Ihre Klinik bestens empfohlen worden. Ich hatte gerade einen auswärtigen Auftrag zu erfüllen, als meine Frau den Nervenzusammenbruch bekam. Selbstverständlich werde ich Sie zur Verantwortung ziehen, wenn meiner Frau etwas passiert sein sollte! Jeden Schuldigen werde ich zur Verantwortung ziehen«, rief Bert Blohm außer sich vor Erregung.
»Vielleicht fangen Sie dann erst einmal bei Ihrer Mutter an«, erklärte der Chefarzt.
»Bei meiner Mutter? So wollen Sie sich aus der Affäre ziehen? Nun, wir werden es sehen.«
Und dann stürmte er hinaus. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Er bekam kaum noch Luft. Er blickte zurück zu dem großen grauen Gebäude, das ihm plötzlich wie ein Gefängnis erschien. Auf die maßlose Erregung folgte jähe Ernüchterung, dann schien sein Blut wie ein glühender Strom durch die Adern zu rinnen. Er wollte zurück, sich auf den Chefarzt stürzen, blind vor Wut. Dies alles bewegte sein Gemüt in Blitzesgeschwindigkeit. Aber dann erwachte die Furcht in ihm, dass wahr sein könnte, was der Arzt gesagt hatte.
Langsam ging Bert Blohm zu seinem Wagen zurück. Natürlich wollte sich der Arzt reinwaschen von einer Schuld, und dazu konnte ihm jedes Mittel recht sein. Aber wie er das gesagt hatte: »Dann fangen Sie erst einmal bei Ihrer Mutter an!«
Ich muss Birgit finden, zuerst muss ich Birgit finden, dachte Bert. Aber wo sollte er sie suchen? Vor drei Tagen hatte sie das Sanatorium verlassen. Schon vor drei Tagen! Und mit dem Auto brauchte er gerade eine Stunde, um nach Hause zu fahren.
Aber Birgit hatte kein Auto. Sie musste den Zug oder den Bus benutzen. Oder sie hatte einen Wagen angehalten. Birgit? Nein, Birgit würde sich nicht zu einem Fremden in den Wagen setzen. Sie war zurückhaltend, fast scheu.
Langsam fuhr er die Strecke. Dort war die Autobushaltestelle. Bestimmt brauchte man zehn Minuten bis dorthin, und mit dem Bus waren es dann sicher nochmals zehn Minuten bis zum Bahnhof. Ob er dort einmal fragte?
Aber er wusste ja nicht einmal, was sie für Kleidung getragen hatte. Ja, was hatte sie eigentlich für Kleider und Mäntel gehabt? War es nicht schlimm, dass er dies nie so genau beachtet hatte? Dass er immer tadellos gekleidet war, dafür Kritik daran übte, dass seine Krawatten zu auffällig seien, dass ein seriöser Mann nur weiße Oberhemden tragen dürfe und dass diese modischen Anzüge unpassend für seine Position seien.
Sicher hatte es gewisse Reibereien zwischen seiner Mutter und Birgit gegeben, aber das rechtfertigte doch nicht solche Anschuldigungen, wie der Chefarzt sie geäußert hatte!
Doch, wohin sollte Birgit gegangen sein, wenn nicht nach Hause zu Toby, zu dem Kleinen, an dem sie mit so abgöttischer Liebe hing?
Birgit hatte sich so sehr mehrere Kinder gewünscht, und als sie dann wieder eines erwartete, bekam Toby die Röteln und steckte Birgit an.
Der Arzt hatte gleich Bedenken geäußert, dass das ungeborene Kind dadurch schwer geschädigt werden könnte. Birgit hatte es nicht glauben wollen. Seine Mutter hatte ihr dann die Bedenken, die schließlich doch kamen, nachdem sie mehrere Ärzte konsuliert hatte, ausgeredet. Und dann war es so gekommen, dass das Kind nur ein paar Stunden lebte, glücklicherweise konnte man da noch sagen, denn es wäre niemals ein normales Kind geworden.
Birgit hatte damals maßlos gelitten, wenn sie es anfangs auch nicht verlauten ließ. Birgit war nicht der Mensch der seinen Schmerz hinausschreien konnte. Sie hatte in früher Jugend schon zu viel Leid erlebt, als sie kurz nacheinander beide Eltern verlor. So richtig fröhlich war sie nie gewesen, aber Bert hatte ihre stille, besinnliche Art geliebt. Auch in seinem Elternhaus war es nicht fröhlich zugegangen. Da hatte immer der »feine Ton« geherrscht. Er ahnte nicht, dass Birgit seine Mutter ganz anders kennengelernt hatte und dass die letzte Erinnerung an sie grauenhaft für sie war und ihr Leben völlig verändern sollte.
*
Jenny Lenz hätte nicht erklären können, warum sie sich etwas davon versprach, dass sich Daniel Norden mit Birgit Blohm unterhielt. Er betrachtete die junge Frau als seinen Schützling, und ein bisschen neugierig war er auch, was hinter Birgits widersprüchlichen Reaktionen stecken mochte.
Jetzt, als er sich an ihrem Bett niederließ und ihr gesagt hatte, dass er sie gefunden und in die Behnisch-Klinik gebracht hätte, zeigte sie eine erschreckende Reaktion.
»Es wäre besser, ich wäre tot und Sie hätten jemand anders gerettet«, sagte sie voller Bitterkeit.
Ja, bitter klang es, aber nicht so, als wäre sie ihrer Sinne nicht mächtig. Im Gegenteil, er gewann den Eindruck, dass sie ihn mit kühlem, sehr klarem Verstand betrachtete.
»Ich weiß nichts von diesem Unglück. Von mir können Sie nichts weiter erfahren«,