Auferstehung. Лев Толстой
die Geschworenen die Beweisstücke betrachtet hatten, erklärte der Präsident die Beweisaufnahme für geschlossen und erteilte sofort dem Staatsanwalt das Wort. Er sagte sich, auch der Staatsanwalt sei ein Mensch, auch er wolle sicherlich rauchen und essen und würde deshalb mit den Anwesenden Mitleid haben. Doch der Staatsanwalt hatte weder mit sich, noch mit den andern Mitleid. Dieser von Hause aus dumme Beamte hatte außerdem das Unglück, daß er das Gymnasium mit einer goldenen Medaille verlassen und später auf der Universität für seine Dissertation über »Die Knechtschaft im Römischen Recht« einen Preis erhalten hatte; deshalb war er im höchsten Grade eingebildet, eitel und selbstbewußt, wozu seine Erfolge bei den Frauen übrigens noch beigetragen hatten; und die Folge von all' dem war, daß seine natürliche Dummheit einen ungeheuren Umfang angenommen hatte.
Als der Präsident ihm das Wort erteilt, erhob er sich langsam, legte die Hände auf sein Pult, neigte den Kopf, warf einen langen Blick auf die Anwesenden, mit Ausnahme der Angeklagten und begann seine Rede, die er während der Verlesung der Protokolle entworfen:
»Der Ihrem Urteil unterbreitete Fall, meine Herren Geschworenen, bildet, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein ganz besonders charakteristisches Beispiel des Verbrechertums.«
Die Anklage des Staatsanwalts mußte wohl seiner Ansicht nach eine allgemeine Tragweite haben, und insofern den berühmten Reden gleichen, die den Ruhm der großen Advokaten begründet hatten. Seine Zuhörerschaft bestand zwar an diesem Tage nur aus Köchinnen, Näherinnen, Kutschern und Laststrägern, doch dieser Umstand konnte ihn nicht aufhalten. Er hatte es sich zum Grundsatz gemacht, sich stets, wie er sagte, »zum Gipfel der Fragen zu erheben«, aus jedem Vergehen die psychologische Bedeutung auszulösen und die soziale Wunde, die dieses Vergehen ausdrückte, bloßzulegen.
»Meine Herren Geschworenen, Sie sehen ein durch und durch typisches Verbrechen unserer Jahrhundertswende vor sich, das sozusagen alle spezifischen Züge des eigentümlichen moralischen Zersetzungsprozesses an sich trägt, der heute zahlreiche Elemente unserer Gesellschaftsklasse ergriffen hat ...«
Der Staatsanwalt sprach in diesem Tone längere Zeit, Er hatte während seiner Rede vornehmlich zweierlei im Auge: erstens bemühte er sich, alle auf den Fall bezüglichen Thatsachen, große wie kleine, zu erwähnen; andererseits hielt er nicht eine Minute inne, so daß seine Rede ununterbrochen mindestens 1 1/4 Stunde dahinfloß. Einmal mußte er aber doch innehalten, weil er den Faden seiner Beweisführung verloren hatte; doch gleich darauf begann er von neuem und holte diese augenblickliche Störung durch doppelte Beredsamkeit wieder ein. Er sprach bald mit einschmeichelnder Baßstimme, bald in natürlichem, gesetztem Tone, bald mit begeisterter Donnerstimme. Nur den Angeklagten, die alle drei die Angen auf ihn richteten, ward nicht die Ehre eines Blickes zu teil. Seine Anklagerede strotzte von den neuesten Formeln, die in seinem Kreise Mode waren und damals für die höchste Wissenschaft galten, ja selbst heute noch dafür gelten. Es war darin von Erblichkeit, von angeborener Neigung zum Verbrechen, von Lombroso und Tarde, von Entwickelung, dem Kampf um's Dasein, von Charcot und Entartung die Rede.
Der Kaufmann Smjelkoff war nach der Erklärung des Staatsanwalts der Typus des natürlichen, kraftstrotzenden Russen, der durch seine Vertrauensseligkeit und Freigebigkeit das Opfer höchst verrohter Geschöpfe geworden war, in deren Hände er gefallen war. Simon Kartymkin war das atavistische Produkt der alten Leibeigenschaft, ein unbeholfener Mensch, ohne Erziehung, ohne Grundsätze, ohne Religion. Euphemia Botschkoff, seine Geliebte, war ein Opfer der Erblichkeit; ihre körperliche Erscheinung und ihr moralischer Charakter wiesen alle Anzeichen der Entartung auf. Doch die Hauptanstifterin des Verbrechens war die Maslow, die den Typus der modernen sozialen Dekadenz in ihrer niedrigsten Form darstellte.
»Dieses Geschöpf,« fuhr der Staatsanwalt, ohne sie anzusehen, fort, »hat im Gegensatz zu ihren Mitschuldigen die Wohlthaten der Erziehung genossen. Wir haben eben gehört, daß die Angeklagte nicht nur lesen und schreiben kann, sondern sogar französisch spricht und versteht. Ein natürliches Kind, zweifellos mit einem atavistischen Makel behaftet, ist die Maslow in einer der vornehmsten Adelsfamilien erzogen worden; sie hätte recht gut von ehrenhafter Arbeit leben können; doch sie hat ihre Wohlthäter verlassen, um sich ganz und gar ihren bösen Instinkten zu überlassen, wobei sie auf ihre Verehrer jenen geheimnisvollen Einfluß ausübte, mit dem sich die Wissenschaft in der letzten Zeit beschäftigt und den die Schule Charcots so glücklich als geistige Suggestion erklärt hat. Tiefe Macht der Suggestion hat sie auf den ehrenhaften und naiven russischen Riesen ausgeübt, der ihr in die Hände gefallen ist, und dessen Gutmütigkeit sie mißbraucht, indem sie ihn zuerst seines Geldes, und dann seines Lebens beraubte!«
»Auf Ehrenwort, er faselt!« sagte der Präsident lächelnd, indem er sich zu dem strengen Richter wandte.
»Ein schrecklicher Dummkopf,« versetzte der strenge Richter.
»Meine Herren Geschworenen,« fuhr der Staatsanwalt inzwischen mit demütigem Kopfnicken fort, »in Ihren Händen ruht jetzt das Schicksal dieser drei Verbrecher und zum Teil auch das der Gesellschaft, denn Ihr Urteil hat die Bedeutung einer großen sozialen Handlung. Sie werden diesem Verbrechen auf den Grund gehen; Sie werden sich überzeugen, daß entartete, ja, ich darf wohl sagen, pathologische Elemente, wie die Maslow, eine Gefahr für die Gesellschaft bedeuten, und Sie werden die Gesellschaft vor der Ansteckung dieser Elemente bewahren. Sie werden die gesunden und kräftigen Elemente der Gesellschaft vor der Verpestung durch die krankhaften Elemente schützen!«
Von der sozialen Bedeutung des zu fällenden Urteils förmlich erdrückt, ließ sich der Staatsanwalt entzückt auf seinen Sessel zurückfallen. Der eigentliche Sinn seiner Anklage bestand unter der Fülle der umkleideten Stilblüten in der Behauptung, die Maslow hätte den Kaufmann hypnotisiert, sich seines ganzen Vertrauens bemächtigt und ihn ausgeplündert; da ihr Plan aber von Simon und Euphemia entdeckt wurde, so hätte sie mit diesen teilen müssen. Um dann die Spuren ihres Diebstahls zu verbergen, habe sie den Kaufmann gezwungen, mit ihr ins Hotel zurückzukehren, wo sie ihn vergiftet hatte.
Gleich nach der Anklagerede erhob sich auf der Bank der Verteidiger, ein kleiner Mann in mittleren Jahren, im Frack und tiefausgeschnittener Weste, und begann eine kräftige Rede zur Verteidigung Kartymkins und der Botschkoff. Es war ein vereideter Konsulent, und die beiden Angeklagten hatten ihm im voraus für sein Plaidoyer 300 Rubel gezahlt. Daher versäumte er auch nichts, um sie als unschuldig hinzustellen und schob die ganze Schuld auf die Maslow.
Er erklärte vor allem, die Behauptung der Maslow, Simon und Euphemia wären im Augenblick, da sie das Geld genommen, im Zimmer gewesen, für falsch. Diese Behauptung könnte keinen Wert haben, da sie von einer des Giftmords überführten Person stammte. Die von Simon in der Bank eingezahlten 1800 Rubel könnten sehr wohl die Ersparnisse zweier fleißiger und ehrlicher Dienstboten darstellen, die nach der Aussage des Hotelwirts 3–5 Rubel Trinkgeld täglich erhielten. Was das Geld des Kaufmanns betraf, so war es zweifellos von der Maslow gestohlen worden, die es jemandem gegeben oder verloren hatte, da sie, wie aus der Untersuchung hervorging, an jenem Abend betrunken gewesen. Auch im Punkte der Vergiftung wäre kein Zweifel möglich, die Maslow gab ja selbst zu, das Gift hineingeschüttet zu haben.
Infolgedessen bat er die Geschworenen, Kartymkin und die Botschkoff des Diebstahls für unschuldig zu erklären; sollten sie sie dessen jedoch schuldig finden, so bat er, sie von der Anklage des Giftmordes freizusprechen oder wenigstens die Ueberlegung auszuscheiden.
Schließlich bemerkte der Verteidiger Simons und Euphemias, »die glänzenden Bemerkungen des Herrn Staatsanwalts über den Atavismus, wären, so bedeutend sie auch vom wissenschaftlichen Standpunkte aus wären, bei diesem Falle nicht anwendbar, da die Botschkoff von unbekannten Eltern stamme.«
Der Staatsanwalt machte ein ärgerliches Gesicht, schrieb schnell etwas auf ein Stück Papier und zuckte verächtlich die Achseln.
Als sich der erste Verteidiger gesetzt, erhob sich der Verteidiger der Maslow und begann stotternd, in schüchternem Tone sein Plaidoyer.